«Die Deutschen haben ihre Geschichte nicht aufgearbeitet»

Interview

Marguerite ist 64 Jahre alt. Sie arbeitet als Kinderärztin und Familientherapeutin. 

Marguerite beim Interview in der Heinrich-Böll-Stiftung. Dieses Plakat von Carolin Löbbert hat sie sich ausgesucht. Es zeigt einen Ausschnitt
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Marguerite beim Interview in der Heinrich-Böll-Stiftung. Dieses Plakat von Carolin Löbbert hat sie sich als Hintergrund für das Foto ausgesucht.

7. Oktober 2023

An diesem Tag habe ich nur an Israel gedacht, ich habe zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht damit gerechnet, dass sich in Deutschland etwas ändern würde.

Eigentlich wollte ich mit einer Freundin nach Israel fliegen. Wir hatten einen Flug für den 8.10. gebucht, der dann gestrichen wurde.

Da ich eine Woche Urlaub hatte, kümmerten sich meine Kinder um mich und ich flog nach London.

Zurück in Berlin wunderte ich mich, dass mich, als ich wieder zur Arbeit ging, niemand fragte und sagte, Marguerite, du bist ja nicht nach Israel gefahren, wie geht es dir, wie geht es deiner Familie?

Und das Schlimmste war, dass ich in ein oder zwei WhatsApp-Gruppen mit Kollegen Beiträge geteilt habe, die von einigen relativiert wurden, weil sie wüssten, wie die Berichterstattung über Israel in den deutschen Medien (hier der Spiegel) sei und dass die Geschichte der Palästinenser nicht richtig dargestellt würde. Zum Glück hat jemand anderes dem widersprochen.

Das unverständliche Schweigen

Für mich ist es unverständlich, dass so wenige Menschen an den Demonstrationen gegen Krieg und Antisemitismus teilnehmen. 40 Jahre meines Lebens habe ich versucht, hier in Deutschland etwas zu verändern, und es hat sich nichts geändert.

Heute muss niemand mehr Angst haben, sich für Jüdinnen und Juden einzusetzen. Der Staat steht hinter uns.

Sogar eine analytische Therapeutin sagte mir dann, dass sie von der Situation so geschockt war, dass ihr Kriegstrauma zurückgekommen sei, weil sie 1945 geboren wurde.

Sie machen den Mund nicht auf, gehen zu keiner Demo, beteiligen sich nicht an irgendwelchen Initiativen, um zum Beispiel auch muslimische Kinder, Jugendliche und Eltern zu erreichen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Oder Solidarität in Kindergärten und Schulen: Dort hätte man am 13. Oktober dazu aufrufen können, jüdische Kinder aufzunehmen, deren Eltern aus Angst ihre Kinder nicht in jüdische Einrichtungen schicken wollten. Ich habe das auf Facebook gepostet. Da haben nur jüdische Freunde reagiert: Was ist, wenn unsere jüdischen Kinder in eine Klasse mit überwiegend muslimischen Schülern kommen? Na und? Das ist der Punkt. Die Pädagogen müssen doch damit umgehen können. Dafür gab und gibt es Fortbildungen, zum Beispiel die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus “KIgA” - die machen eine tolle Arbeit. Davon müsste es viel mehr geben.

Bei meinen Kindern in London ist es so, dass der eine Sohn als Wirtschaftsberater in einer internationalen Firma arbeitet, die sich aus der Politik heraushalten muss, aber zumindest dazu Stellung nimmt. Der andere macht seinen Master in Politischen Wissenschaften. Er erlebt kleine gute Momente, wo er auch mit einer palästinensischen Kommilitonin zusammen spricht und das Gefühl hat, dass er wenigstens an der Uni im Dialog bleiben kann.

Jeder jüdische Mensch, der in Deutschland lebt, ist eine Provokation

Ich trage noch immer meinen Ring mit dem eingravierten Davidstern. Den nehme ich auch nicht ab.

Wenn ich die Kinder in der Praxis untersuche, können die begleitenden Eltern ihn natürlich sehen.

Ich kann aber auch von einem guten Erlebnis berichten.

Bei einem Hausbesuch in einer Familie sollte ich einen Jungen namens David untersuchen und seine Schwester Rachel sitzt neben ihm und seine Mutter Sarah ist hochschwanger und ich frage den Vater, wie das 4. Kind heißen soll und er sagt voller Freude, wahrscheinlich Jonathan und ich sage, oh wow, so viele biblische Namen und er sagt: “Oh, Sie sind bestimmt katholisch, dass Sie sich so gut auskennen”. Der Vater, der in Berlin aufgewachsen ist, erzählte mir, dass er einen syrischen Vater und eine türkische Mutter hat, die sehr gläubig ist.

Dann habe ich ihnen gerne erzählt, dass ich Jüdin bin. Wir haben dann darüber gesprochen, wie die abrahamitischen Religionen zusammen gehören.

Früher habe ich in der U-Bahn die Jüdische Allgemeine gelesen, das mache ich nicht mehr. Ich möchte nicht angesprochen werden. Hier leben jetzt so viele Israelis und ich habe mich immer gefreut, wenn ich Hebräisch auf der Straße gehört habe.

Einige sind ja auch nach dem 7. Oktober nach Deutschland gekommen, um sich ein paar Wochen vom Raketenalarm zu erholen. Jetzt erzählen sie mir bei Hausbesuchen, dass sie es vermeiden, mit ihren kleinen Kindern, die nur Hebräisch sprechen, auf die Straße zu gehen. Sie haben Angst. Und diese Angst ist nicht auf ein Viertel beschränkt. Das ist die Veränderung.

Manchmal wünsche ich mir, ich müsste mich «nur» für meinen Glauben rechtfertigen. Meiner Meinung nach ist jeder jüdische Mensch, der in Deutschland lebt, eine Provokation. Im Gegensatz zu den toten Juden, die alle geliebt werden.

Die antisemitischen Reaktionen haben für mich etwas mit der deutschen Geschichtsaufarbeitung zu tun. Vor Muslimen habe ich keine Angst. Ich muss damit umgehen. Das war früher auch so. Aber dass die Reaktion in Deutschland jenseits der Politik so merkwürdig still ist, muss damit zu tun haben, dass es plötzlich Bilder gibt für das, was bisher die Großeltern erzählt haben und was man sich nicht vorstellen konnte und deshalb aus dem Bewusstsein verdrängt hat. Als systemische Therapeutin habe ich mich lange mit transgenerationellen Shoah-Traumata beschäftigt.

Wie gehen wir mit dieser kollektiven, generationsübergreifenden Schuld um?

Ich will, dass es nur ein Albtraum ist

Eine gute Freundin von mir ist Lehrerin an einem Berliner Gymnasium. Vor zehn Jahren wollte sie mit einer Schülergruppe nach Krakau fahren und auch Auschwitz besuchen. Sie fragte mich, wie sie das machen könne, denn in ihrer Klasse waren jüdische und nichtjüdische Schüler. Ich bin in die Klasse gegangen und habe mit den Schülern eine sogenannte Genogrammarbeit gemacht - die Stammbäume ihrer Herkunftsfamilien angeschaut. Ich habe gefragt, was sie denken, was ihre Großeltern im Krieg gemacht haben. Dann haben sie zu Hause nachgefragt und wir haben die Familiengeschichten ausgetauscht. Wichtig war, dass sie nicht erst in Auschwitz damit konfrontiert wurden, dass ihre Großeltern auf verschiedenen Seiten standen. Das war dann eine sehr intensive Reise für die Jugendlichen.

Ich wünsche mir, dass ich aufwache und alles nur ein Albtraum ist.

Dass meine jüdischen Freunde nicht denken müssen, dass ihre Kinder hier nicht mehr sicher aufwachsen können, dass die AfD gestoppt wird...

Um mit etwas Gutem zu enden: In einem Berliner Bezirk haben sich auf Initiative einiger Lehrerinnen und Lehrer mehrere Oberschulen zusammengetan, um gemeinsam Chanukka zu feiern.

Jeden Tag gehen sie an einen anderen jüdischen Ort, in einen jüdischen Kindergarten, in eine jüdische Schule, in eine Synagoge, um dort ein Licht anzuzünden – ein Licht zu verbreiten in dieser dunklen Zeit.

Und ich? Ich habe meine kleine, wunderbare Reform-Gemeinde.

Das Gespräch führte Annette Maennel Mitte Dezember 2023.