Trotz militärischer Stärke erliegt Israel seiner verhängnisvollsten Schwäche

Kommentar

Die Illusion, dass Israel Gaza endlos kontrollieren könne, wurzelt in einem dysfunktionalen politischen System, das nicht in der Lage ist, sich eine alternative Zukunft vorzustellen.

IDF soldiers from the Nahal Brigade operating in Gaza during Operation Protective Edge.

Die hebräische Originalversion des Artikels wurde am 25. Oktober 2023 bei Local Call veröffentlicht.

Eine englische Version des Artikels folgte am 15. November 2023 beim +972 Magazine.


Das Abschlachten von 1 200 Frauen und Männern, Kindern und alten Menschen im Süden Israels im vergangenen Monat und die Entführung von etwa 240 Geiseln, hat die israelische Gesellschaft in einen Zustand tiefer Sprachlosigkeit versetzt. Es herrscht ein überwältigendes Gefühl des Schmerzes, eine Unfähigkeit, unsere Gedanken auszudrücken und es macht Mühe, unsere bittere Realität zu erfassen.

Wie bei fast jeder Person oder Gemeinschaft, die unter einem Post-Trauma leidet, hat der 7. Oktober bei israelischen Jüdinnen und Juden sofort Erinnerungen an vergangene Traumata geweckt: an die Pogrome gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Ost-Europa, an den Krieg von 1948 und natürlich an den Holocaust. Die israelischen Medien zogen auch recht rasch Parallelen zum Yom-Kippur-Krieg von 1973 und beschworen die Vorstellung eines »Überraschungsangriffes« herauf, um zu erklären, weshalb es Regierung und Armee versäumt haben, angemessen auf ein solches Ereignis vorbereitet zu sein.

Ein Großteil dieser Diskussion drehte sich darum, den Zusammenbruch eines »Konzeptes« zu beklagen – also einer bestimmten Interpretation der Situation vor Ort und Israels Kontrolle darüber. Doch das, was am 7. Oktober zusammengebrochen ist, lässt sich wohl am besten als eine Illusion beschreiben und diese Illusion ist das Gefängnis Gaza: die unsinnige Überzeugung, dass es mit ausreichend militärischer Macht möglich sei, mehr als zwei Millionen Menschen in einem endlosen Blockade-Zustand zu halten, ohne dass dies eine Explosion zur Folge hätte.

Israels Kontrolle über Gaza war eine Illusion

Diese Illusion, die in der Unfähigkeit wurzelt, die Realität klar zu sehen, hat das israelische Sicherheitsestablishment blind gemacht für die Entwicklungen der letzten Jahre, die bereits auf einen Zusammenbruch des »Status quo« hingedeutet haben. Die Verantwortlichen haben nicht bemerkt, dass die Hamas ihre eigene Drohnen-Luftwaffe aufgebaut hat, dazu Seestreitkräfte und Bodenkommandoeinheiten und nicht mehr ausschließlich auf die Lieferung von Raketen angewiesen war, die von einer militärischen Industrie im Untergrund gefertigt wurden. Sie gaben sich der Täuschung hin, dass die Hamas mit Geld aus Katar und Arbeitsgenehmigungen für ein paar tausend palästinensische Arbeiter*innen gekauft werden könne, während Hunderttausende andere im Gazastreifen ohne Beschäftigung dahinvegetieren.

Zudem hat Israel es versäumt, die Bedeutung des palästinensischen Aufstands vom Mai 2021 richtig einzuschätzen, der oftmals als »Unity Intifada« (Einigkeits-Intifada) bezeichnet wird. Dieser Aufstand hatte seinen Anfang in Jerusalem genommen, mit Demonstrationen gegen israelische Polizeigewalt am Damaskus-Tor und gegen die Übernahme von palästinensischem Eigentum durch Siedler im Viertel Scheich Dscharrah und hat sich dann auf Palästinenser*innen in »gemischten Städten« in Israel ausgebreitet, ehe sich die Hamas von Gaza aus in die Auseinandersetzung einschaltete.

Das Abfeuern von Raketen auf Jerusalem durch die Hamas – eine Reaktion auf wiederholte Razzien der israelischen Polizei in der Al-Aqsa-Moschee – war aus dem Blickwinkel der militanten Gruppierung betrachtet, ein Versuch, die Führungsrolle im palästinensischen Widerstand zu übernehmen und sich die Verschlechterung der Lebensbedingungen von Palästinenser*innen in allen Gebieten unter israelischer Kontrolle zu Nutzen zu machen. Die Hamas wusste, dass Israel mit der üblichen Methode des »Rasenmähens« – einem heftigen Bombardement des abgeriegelten Gazastreifens – reagieren und damit weltweites Mitgefühl und Identifikation mit dem Leid der Palästinenser*innen in Gaza auslösen würde.

Unsere Machthabenden begriffen nicht, dass die Hamas eine ganz andere Interpretation der Ereignisse hatte. Demnach ist die islamische Bewegung nicht nur als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgegangen, sondern hat auch die israelische Armee erfolgreich abgeschreckt und die Palästinenser*innen unter ihrer Führung vereint. Ebenso wenig konnten unsere Machthabenden begreifen, dass Israels Politik des «Teile und Herrsche« – also den Islamischen Dschihad ins Visier zu nehmen und der Hamas gleichzeitig zu signalisieren, dass man nicht intervenieren werde – von der Hamas in Gaza als Ergebnis der eigenen erfolgreichen Abschreckung verstanden werden würde.

Die militärische Stärke täuschte über die politische Schwäche hinweg

Wenn also Illusionen der Schwäche entspringen, woher kommt dann Israels Schwäche? Israel besitzt zweifellos enorme militärische Stärke und der einseitige Rückzug von Truppen und Siedlern aus Gaza im Jahr 2005 erkaufte dem Land die internationale Zustimmung, diese Stärke ohne Einschränkungen im Gazastreifen einzusetzen. Die Antwort lautet, dass Israels Schwäche nicht militärischer, sondern politischer Natur ist; dass trotz der lautstarken Forderungen »die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte gewinnen zu lassen«, das Bild des »Sieges« über ein eingeschlossenes Volk, das sich gegen seine Unterwerfung zur Wehr setzt, in Wirklichkeit eine Farce ist.

Diese politische Schwäche liegt auch im Unvermögen Israels, sich den Dialog als möglichen Weg in Richtung Frieden vorstellen zu können und das schon seit dem Jahr 2000, als der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak nach erfolglosen Friedensverhandlungen in Camp David verkündete: »Es gibt keinen Partner.« Während der Zweiten Intifada, die kurz danach ausbrach und in der Palästinenser*innen bei Selbstmordattentaten im Laufe von fünf Jahren etwa tausend Israelis töteten, waren die Israelis überzeugt davon, dass die Vergeltungsschläge gegen die Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten – bei denen im selben Zeitraum viermal so viele Menschen getötet wurden – einen »Krieg ohne Wahl« darstellen würden. Es ist bezeichnend, dass am 7. Oktober mehr Israelis getötet wurden, als während der gesamten Intifada; das alleine zeigt das Ausmaß des Verfalls, der zum völligen Versagen des Staates im vergangenen Monat geführt hat.

Die Schwäche liegt in unserem Unvermögen zu begreifen, dass militärische Macht alleine nicht ausreicht, so lange sie nicht von irgendeinem politischen Ziel geleitet wird. Dies zeigt sich ganz deutlich in Israels einseitiger Herangehensweise an die Palästinenser*innen-Frage seit der Zweiten Intifada, die im einseitigen Abzug aus Gaza ihren vollen Ausdruck fand und bei dem es sich im Grunde genommen um eine Neustationierung der israelischen Armee-Einheiten rund um den Gazastreifen handelte.

Der einseitige Rückzug sollte die Umsetzung von Präsident George W. Bushs »Roadmap for Peace« verhindern, in der die Gründung eines palästinensischen Staates bis 2005 vorgesehen war. Er verhinderte zudem die reibungslose Übernahme der Verwaltung durch die palästinensischen Behörden in Gaza, was, zusammen mit der Wirtschaftsblockade und der Abriegelung, den Sieg der Hamas in den Parlamentswahlen 2006 ermöglichte und Israels »kein Partner«-Mantra weiter stärkte.

Der Rückzug erlaubte es Israel zudem, das Westjordanland vom Gazastreifen zu trennen, wodurch ein klassisches koloniales System des Teile-und-Herrsche geschaffen wurde – bei dem der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, das Westjordanland und die Hamas Gaza regierten, beide in völliger Abhängigkeit von Israel. Diese Kontrolle empfand Israel als effizient und vermied so die Notwendigkeit von politischen Verhandlungen und Kompromissen mit den Palästinenser*innen.

Israels politische Schwäche wird auch in der Tatsache deutlich, dass seit dem Rückzug von 2005 verschiedene Ein-Mann-Parteien in der politischen Arena Israels aufgetaucht sind, die keinerlei Vision eines friedlichen Dialogs mit palästinensischen Führungspersonen hatten: Ariel Scharons Kadima, Jair Lapids Jesch Atid, Avigdor Libermans Jisra’el Beitenu und Benny Gantz‘ Blue and White. Keine dieser Parteien bietet eine politische Alternative zur militärischen Kontrolle über die Palästinenser*innen, oder weist interne demokratische Mechanismen für die Wahl oder Absetzung ihres Vorsitzenden auf.

Es ist die gleiche Schwäche, die aus Benjamin Netanjahu »Bibi, König von Israel« machte, den erfolgreichsten Vermarkter von Illusionen und Lügen. Alles lief zu seinen Gunsten – auch das Verhalten der Oppositionsparteien, von denen fast alle seit 2009 Teil seiner Koalitionen waren und die alle bei seiner Illusion des Gaza-Gefängnisses mitgemacht haben.

Keine Demokratie

Der Kern der politischen Schwäche, die die Illusion des Gaza-Gefängnisses nährt, liegt im weiteren Sinne in einem Mangel an Demokratie in Israel. Demokratie soll Führungsstärke fördern, Alternativen bieten, ineffiziente Führung ersetzen und es den Bürger*innen gestatten, Rechenschaft einzufordern. Doch es gibt keine israelische Demokratie, solange Israel die Kontrolle über die Palästinenser*innen durch seine Militärherrschaft ausübt.

Die rechtsextremen Minister Bezalel Smotrich, Itamar Ben-Gvir und Yariv Levin verstanden es sehr gut – wie der extremistische Rabbiner Meir Kahane schon vor ihnen deutlich machte – dass es einen Konflikt zwischen Demokratie und jüdischer Vormachtstellung gibt und so versuchten sie, Erstere zu unterdrücken, um Letztere mithilfe einer Justizreform durchzusetzen. Dies ist der Elefant im Raum, den selbst die hunderttausenden Anti-Regierungs-Demonstrant*innen, die vor dem 7. Oktober vierzig Wochen lang »Demokratie!« riefen, kaum in der Lage waren zu erkennen.

Die mörderischen Angriffe der Hamas vom 7. Oktober waren bewusst darauf ausgelegt, jenen Albtraum wahr werden zu lassen, vor dem der israelische Prophet des Zornes, Jeschahaju Leibowitz, gewarnt hatte: einen totalen Krieg zwischen Israel und den Arabern, bei dem der Großteil der Welt Verständnis für Letztere haben würde. Die Hamas weiß, dass nur die extremistischen Fanatiker Israels ein klares politisches Ziel haben und sie versteht, wie einfach Israel sich aufgrund seiner militärischen Überlegenheit und seines dysfunktionalen politischen Systems zu brutalen Reaktionen und einer weiteren Gewalteskalation hinreißen lässt.

Die Hamas ist ein erbitterter und skrupelloser Gegner, aber sie ist auch raffiniert und entschlossen. Sie war auf Israels Gegenschlag vorbereitet und ihre Kämpfer sind bereit, ihr Leben zu opfern. Öffentliche Verurteilungen und Demonstrationen in arabischen Ländern, aber auch durch Intellektuelle und linke Gruppen in bestimmten westlichen Ländern, lassen zumindest im Moment darauf schließen, dass das politische Kalkül der Hamas aufgeht.

Die Anführer der militanten Gruppierung verstehen, dass es unmöglich ist, eine Idee oder eine ideologisch motivierte Bewegung auszulöschen, selbst wenn es Israel gelingen sollte, jeden einzelnen der Hamas-Kämpfer zu fangen, zu vertreiben oder zu töten, die sich in Gazas Tunneln verstecken. Sie wissen auch, dass die israelische Gesellschaft tägliche Verluste von eigenen Soldat*innen während einer lang angelegten Besatzung Gazas nach der Bodenoffensive nicht akzeptieren kann.

Sollte es der Armee nach der Bodenoffensive nicht gelingen, ihre zwei erklärten Ziele zu erreichen – die Geiseln zu befreien und die militärischen Kapazitäten der Hamas zu zerstören – dann wird dies das öffentliche Vertrauen in das Militär ernsthaft beschädigen. Der Versuch, die Sicherheit Israels nach dem 7. Oktober nur durch militärische Maßnahmen wiederherzustellen, ohne eine Vision für eine friedliche Zukunft, ist zum Scheitern verurteilt.

Der Mut, sich etwas anderes vorzustellen

Innerhalb von Israels zerrüttetem politischem System ist es äußerst schwierig für die Öffentlichkeit, sich vom Schock und Grauen des 7. Oktobers zu erholen, ohne in die von der Hamas ausgelegte Falle zu tappen. Es braucht Zeit, um zu verarbeiten und zu reflektieren. Wir müssen alles von neuem aufbauen: unsere Gesellschaft, unsere Institutionen und unser politisches System. Wir müssen die Realität mit klarem Blick sehen, ohne Angst, ohne Entscheidungen aus dem Bauch heraus und ohne Illusionen. Wir müssen den Gegner betrachten, der vor uns steht – der ebenfalls alles aus Trümmern wieder aufbauen muss – und zwischen der Hamas und den zwei Millionen Einwohner*innen von Gaza unterscheiden.

Wir müssen auch anerkennen, dass die israelische Zivilgesellschaft in einem bemerkenswerten Akt der Solidarität eingesprungen ist, um in Abwesenheit funktionsfähiger staatlicher Institutionen Hilfe für die Betroffenen anzubieten. Und nicht nur israelische Jüdinnen und Juden; palästinensische Bürger*innen waren von den Gräueltaten des 7. Oktober ebenso erschüttert, aber auch von den israelischen Bombardierungen Gazas. Auch sie zeigen sich solidarisch mit jenen, die Hilfe am nötigsten brauchen, trotz der Eskalation der rassistischen Diskriminierung, die sie von den Behörden erfahren.

Aufbauend auf diesem Fundament ziviler Stärke müssen wir auf die Freilassung aller Geiseln drängen, einen Waffenstillstand unterstützen und uns für umfassende Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch einsetzen. Die Realität klar zu sehen, heißt auch, nicht in die Falle der Hamas zu tappen, indem wir die Bodenoffensive fortsetzen, die Jahre des Guerillakrieges in den Gassen der zerstörten Städte nach sich ziehen könnte – oberirdisch und in den Tunnelstädten darunter.

Der einzige Weg, um die brutale Vision der Hamas – Israel gewaltsam zu eliminieren – zu zerschlagen, ist es, den Palästinenser*innen zu zeigen, dass es auch eine friedliche Lösung gibt und dass Gewalt immer nur zu noch mehr Verzweiflung und Zerstörung führt. So sollte auch die Botschaft von Präsident Joe Biden verstanden werden, als er die israelische Führung aufforderte, nicht die gleichen Fehler zu machen, wie die USA nach 9/11.

Wenn sich die aufgeheizte Atmosphäre der Vergeltung gelegt hat, muss Netanjahu entmachtet und seine extremistische Koalition aufgelöst werden. Wird Netanjahu sofort abgesetzt, während die Öffentlichkeit noch Vergeltung fordert und sich weiterhin der Illusion eines militärischen Sieges hingibt, würde die Opposition, die dann die Macht übernähme, scheitern. Das wäre fatal. Es besteht keine Notwendigkeit, sich in sofortige Verhandlungen zwischen zwei zerfallenden politischen Systemen – Israelis und Palästinenser*innen – zu begeben, da dies nirgendwo hinführen würde.

Es ist offensichtlich, dass Neuwahlen in Israel nötig sind, doch dafür braucht es dringend die Gründung neuer politischer Parteien, die dort antreten können. Diese Parteien sollten über eine umfassende Vision für die israelische Gesellschaft verfügen, die sich sowohl mit der internen Spaltung als auch mit dem friedlichen Zusammenleben mit den Palästinenser*innen auf der Basis von Gerechtigkeit und Gleichheit auseinandersetzt. Das wird seine Zeit brauchen, denn demokratische Parteien lassen sich nicht über Nacht erschaffen. Wir müssen die antidemokratische Tendenz, Parteien rund um einen dominanten Anführer zu etablieren, überwinden, selbst wenn dieser Anführer vom Volk und aus den Anti-Regierungs-Demonstrationen oder dem anhaltenden Krieg hervorgeht.

Und vor allem ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir als Bürgerinnen und Bürger die Macht haben –  es gibt bereits viele Organisationen und Initiativen, in deren Rahmen wir diese Macht mit Vernunft und Weitsicht nutzen können. Wir müssen uns einfach nur der Realität stellen, uns für die Menschen um uns herum öffnen und dem natürlichen menschlichen Instinkt vertrauen, in Frieden und Würde leben zu wollen. Die Illusion militärischer Lösungen zu beenden ist von größter Bedeutung und wir müssen es allmählich wagen, uns etwas ganz anderes vorzustellen. Ohne diese Vorstellungskraft und die Vision einer neuen Zukunft gibt es keine Politik, oder, wie es in unseren alten Texten heißt: »Wo es keine Vision gibt, gehen die Menschen zugrunde.«

 

 

Übersetzt aus dem Englischen von Alexandra Titze-Grabec.

Professor Lev Grinberg ist politischer Soziologe an der Ben Gurion Universität und Verfasser von Politics and Violence in Israel/Palestine (Routledge, 2010).