Türkei - Verschlechterung der Situation für Geflüchtete

Hintergrund

Ein Jahr ist es her, dass die Erdbeben vom 6. Februar die Südtürkei und Nordsyrien erschüttert haben. Nicht nur die Menschen in der Türkei, sondern auch 1,7 Millionen syrischer und anderer Geflüchteter waren betroffen. Eine nie dagewesene Welle flüchtlingsfeindlicher Politik und Rhetorik konnte bis heute nicht gestoppt werden.

Mopedfahrer fährt an vom Erdbeben zerstörten Haus vorbei
Dieser Artikel gehört zu einer kleinen Reihe von Artikeln des Büros Istanbul der Heinrich-Böll-Stiftung zum ersten Jahrestag des Erdbebens in der Türkei und Syrien vom 6. Februar 2023.

Ein Jahr ist es her, dass die Erdbeben vom 6. Februar die Südtürkei und Nordsyrien erschütterten. In der Türkei flammte nach der Naturkatastrophe ein Thema besonders auf: Geflüchtete. Lokale Parteien und frustrierte Einwohner*innen fokussierten ihren Unmut nach dem Beben auf die zahlreichen Migrant*innen im Land und Politiker*innen griffen ihre Wut auf. Im anschließend turbulenten Präsidentschafts- und Parlamentswahlkampf rückten die Kandidat*innen diese Thematik in den Mittelpunkt und überboten sich mit Abschiebeplänen und Verteufelungen der vor allem syrischen Geflüchteten.

Präsident Recep Tayyıp Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wurden schließlich wiedergewählt. Viele Geflüchtete hatten gehofft, dass die politischen Verunglimpfungen, die gegen sie gerichtet waren, im Anschluss an die Wahlen abklingen würden, doch leider ist das Gegenteil eingetreten. Die türkischen Behörden haben Verhaftungen, Inhaftierungen und Abschiebungen von Geflüchteten verstärkt. Mit den landesweiten Kommunalwahlen im März, bei denen Istanbul und andere von der Opposition regierte Großstädte auf dem Spiel stehen, wird sich die Lage für sie wahrscheinlich noch weiter verschlechtern.

Von einer Politik der offenen Türen hin zu Diskriminierung

Trotz dieser Entwicklungen ist die Türkei für Geflüchtete nach wie vor das größte Aufnahmeland der Welt. Sie beherbergt über 3,3 Millionen Syrer*innen, die unter vorübergehendem Schutz stehen, über 300.000 Geflüchtete und Asylbewerber*innen, 1,3 Millionen Ausländer*innen mit Aufenthaltsgenehmigung und eine unbekannte Zahl irregulärer Migrant*innen.

Die momentane Lage macht die Türkei seit langem für Millionen von Migrant*innen aus Afghanistan, Iran, Irak, Pakistan und anderen Ländern zu einem Transitland für irreguläre Migration auf dem Weg nach Europa. Zu einem Land mit positivem Wanderungssaldo wurde die Türkei jedoch erst, als Präsident Erdoğan den syrischen Geflüchteten nach Kriegsausbruch 2011 die Tür öffnete. Sie wurden zunächst als "Gäste" bezeichnet, ähnlich wie die Gastarbeiter*innen im Nachkriegsdeutschland. Um die Asylpraxis zu regeln, verabschiedete die türkische Regierung 2013 das Gesetz über Ausländer*innen und internationalen Schutz und schloss 2016 ein Abkommen mit der Europäischen Union. Darin verpflichtete sie sich, die Politik zur Verhinderung irregulärer Migration in die EU zu unterstützen. Im Gegenzug richtete die EU einen Fonds ein, der bisher sechs Milliarden Euro für die Unterstützung von Geflüchteten im Land ausgegeben hat. Auch war geplant, mit internationaler Unterstützung Syrer*innen in Drittländern anzusiedeln, doch das ist nur schleppend passiert: Bis zu diesem Jahr sind nur 64.444 Syrer*innen unter vorübergehendem Schutz angesiedelt worden.

Andere Nationalitäten, darunter Iraker*innen, Afghan*innen und Iraner*innen, haben in der Türkei ebenfalls keinen offiziellen Geflüchtetenstatus. Da sie lediglich internationalen Schutz [1] genießen, stehen sie vor denselben Herausforderungen, haben jedoch noch weniger Rechte als Syrer*innen. Allerdings gibt es auch Menschen ohne Papiere, die komplett ungeschützt sind.

Die Türkei hatte Schwierigkeiten, die noch nie dagewesene Zahl von Geflüchteten aufzunehmen, zumal die Bevölkerung ab 2018 eine Wirtschaftskrise erlebte, die zu einem Anstieg der sozialen Spannungen führte. Untersuchungen ergaben, dass im Jahr 2020 nur 23 Prozent der türkischen Bürger*innen eine syrische Braut oder einen syrischen Bräutigam in ihre Familie aufnehmen oder eine Syrer*n als Geschäftspartner*in in Betracht ziehen würden, und nur 31 Prozent würden ihr Kind in einer Klasse mit einer Syrer*in unterrichten lassen wollen. Als die Taliban wieder die Macht übernahmen und täglich zwischen 500 und 2.000 Afghan*innen in die Türkei kamen, sagte der damalige Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) Kemal Kılıçdaroğlu:

Das wahre Überlebensproblem unseres Landes ist die Flüchtlingsflut. Jetzt sind wir in der afghanischen Flut gefangen.

Da die Regierung nicht in der Lage war, die Geflüchteten vollständig zu integrieren und die freiwillige Rückkehr zu erleichtern, ebnete sie für einige den Weg zur türkischen Staatsbürgerschaft. Im Dezember 2023 gab die Regierung bekannt, dass 238.000 Syrer*innen unter vorübergehendem Schutz eingebürgert wurden. Gleichzeitig erließ die Regierung jedoch auch Maßnahmen, die den Geflüchteten und Migrant*innen das Leben schwer machten. So hat die Türkei beispielsweise damit begonnen, für bestimmte Stadtviertel die Zahl der Ausländer*innen zu begrenzen. Diese Polarisierung hat sich nach den verheerenden Erdbeben Anfang 2023 noch verstärkt.

Schlechte Versorgung von Geflüchteten

Das Beben der Stärke 7,8 und mehrere Erschütterungen betrafen mehr als 9,1 Millionen Menschen in der Türkei - darunter 1,7 Millionen syrische Geflüchtete, die vorübergehend unter Schutz stehen - und hinterließen weitreichende Zerstörungen an Gebäuden und Infrastruktur. Das Beben forderte landesweit mehr als 50.000 Todesopfer, darunter mehr als 7.300 Geflüchtete. Die Vertriebenen suchten Schutz in allem, was noch stand, bis die Helfer*innen Lager einrichten konnten.

Die Hilfe erreichte die Opfer nur langsam und war zudem ungleich verteilt. Bei einem von vielen Vorfällen wurden vertriebene Syrer*innen, die in einem Schlafsaal in der Mittelmeerstadt Mersin untergebracht waren, gezwungen, über Nacht zu gehen, um Platz für Türk*innen zu machen. Später berichteten Nichtregierungsorganisationen, dass Geflüchtete erst dann mobile Containerwohnungen erhielten, wenn die vertriebenen türkischen Einwohner*innen versorgt waren. Die Organisationen stellten fest, dass Frauen, die nicht zu einer Familie gehören, keine eigenen Zelte erhielten. Bedarfsermittlungen ergaben, dass Frauen wenig aßen, um sicherzustellen, dass auch andere satt wurden. Geflüchtete Frauen und Mädchen erlebten in den Containerlagern Gewalt, und eine migrationsfeindliche Rhetorik hinderte einige daran, Hilfe zu suchen und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Die Katastrophe verschlimmerte das Leid von Millionen von Geflüchteten in der Türkei und ließ die Betroffenen im isolierten Nordwesten Syriens sich selbst überlassen.

Die Mehrheit der Geflüchteten musste umziehen. Normalerweise konnten sich Personen mit vorübergehendem oder internationalem Schutzstatus ohne staatliche Reisegenehmigung nicht außerhalb ihrer registrierten Provinz bewegen. Nach dem Erdbeben hob die Regierung dieses Reiseverbot für diejenigen, die in den sechs am stärksten betroffenen Provinzen registriert waren, jedoch vorübergehend auf, was viele dazu veranlasste, in städtische Zentren in anderen Teilen der Türkei umzuziehen, andere reisten nach Nordwestsyrien. Die meisten waren mit Mieterhöhungen, Sachschäden an ihren Häusern, anhaltenden wirtschaftlichen Problemen und zunehmender Diskriminierung konfrontiert.

Deportationen und Pushbacks

Die Trauer nach der Katastrophe machte sofort einem hässlichen Präsidentschafts- und Parlamentswahlkampf in der Türkei Platz, bei dem die Geflüchteten im Mittelpunkt standen. Einen Monat nach dem Erdbeben reiste der wichtigste Präsidentschaftskandidat der Opposition, Kılıçdaroğlu, an die türkisch-syrische Grenze, wo er versprach, syrische Geflüchtete innerhalb von zwei Jahren zurückzuschicken. Er sagte auch, er werde Afghan*innen in den Iran abschieben. Präsident Erdogan kündigte einen Plan zur Rückführung von einer Million Syrer*innen nach Nordsyrien an. Die fremdenfeindliche Zafer-Partei verbreitete Gerüchte, dass Syrer*innen Geschäfte in der schwer beschädigten Provinz Hatay geplündert hätten. Flüchtlingsfeindliche Stimmung und Hassverbrechen nahmen im ganzen Land zu, und Wähler*innen und Politiker*innen machten sie für die Hyperinflation, die stotternde Binnenwirtschaft und sogar für das Erdbeben selbst verantwortlich. Die AKP, unter allen großen Parteien die wohl am wenigsten migrationsfeindliche, gewann zwar die Wahl, jedoch war eine wichtige Erkenntnis aus eben dieser: Geflüchtete sind nicht mehr erwünscht.

Kurz darauf begann die türkische Regierung mit einer groß angelegten Razzia gegen Personen, die sich ohne ordnungsgemäße Genehmigung in der Türkei aufhielten und arbeiteten. Die Behörden begannen, Migrant*innen und Geflüchtete ohne Papiere abzufangen, die sich unerlaubt außerhalb ihrer jeweiligen Provinz aufhielten. Zuvor wurden diejenigen, die außerhalb aufgegriffen wurden, wieder in ihre Provinz zurückgeschickt. Es gibt jedoch zunehmend Berichte über Inhaftierungen und Abschiebungen nach Syrien. Dies gilt auch für Geflüchtete, die aus den erdbebengeschädigten Provinzen umgesiedelt waren, da die Regierung die gelockerten Reiseerlaubnisse nur unzureichend kommuniziert hat. Syrische Geflüchtete werden nun zunehmend aus Abschiebezentren direkt nach Nordwestsyrien abgeschoben. Mindestens ein Syrer, der sich in einem Abschiebezentrum befand, starb in der Haft. Obgleich es so etwas bereits vor den Wahlen gab, kommt es nun immer häufiger zu Meldungen, da die Geflüchteten, insbesondere die durch das Erdbeben Vertriebenen, zunehmend gefährdet sind.

In der zweiten Hälfte 2023 folgte die Türkei dem Beispiel Pakistans und des Iran und schob noch mehr Afghan*innen ab. Von Oktober bis November 2023 wurden etwa 3.900 Afghan*innen mit Charterflügen nach Kabul zurückgeführt. Andere Hinweise lassen erkennen, dass Afghan*innen über die Landesgrenze in den Iran abgeschoben wurden. 2022 waren es etwa 50.000 Afghan*innen.

Die türkische Regierung gibt an, dass solche Abschiebungen freiwillig sind, doch gibt es Berichte aus erster Hand, wonach die Gefangenen gezwungen werden, solche freiwilligen Rückführungsdokumente zu unterzeichnen. Die Genfer Konvention von 1951 verbietet es den Unterzeichnerstaaten - einschließlich der Türkei -, Geflüchtete an Orte zurückzuschicken, an denen sie in Gefahr sein könnten. So sind beispielsweise frühere Geflüchtete, die nach Syrien zurückgekehrt sind, seitdem verschwunden.

Die Angst vor Abschiebung und möglichem Verschwinden hat Tausende von Geflüchteten dazu gebracht, in Europa Asyl zu suchen. Im vergangenen Jahr wurde in der Türkei die höchste Zahl von aufgegriffenen Schleuser*innen verzeichnet, wie aus offiziellen Regierungsstatistiken hervorgeht. Im Oktober 2023 meldete die Asylagentur der Europäischen Union 123.000 Asylanträge, den höchsten Stand seit der Geflüchtetenkrise 2015/16 - wobei Syrer*innen mit Abstand die meisten Anträge stellten.

Was für die Zukunft wichtig ist

Nächsten Monat finden in der Türkei landesweite Kommunalwahlen statt, und das Geflüchtetenthema wird wahrscheinlich eine Rolle bei den Versuchen der Kandidaten spielen, Wähler*innen für sich zu gewinnen. Alle Augen richten sich auf Istanbul, wo ein Viertel der türkischen Bevölkerung lebt und fast die Hälfte des türkischen BIP erwirtschaftet wird. Die Heimatstadt Erdogans wird von der CHP, der größten Oppositionspartei, kontrolliert. Erdogans Bürgermeisterkandidat Murat Kurum begab sich zu Beginn des Wahlkampfs nach Fatih, dem Stadtteil mit den meisten Geflüchteten in Istanbul, und sagte: "Wir müssen das Problem [der Syrer*innen] in den Griff bekommen". Er versprach, die Straßen wieder sicher zu machen, eine Rhetorik, die an die Stimmung gegen Migrant*innen anknüpft. Istanbuls CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu gewann die Kommunalwahlen 2019, indem er Erdogans frühere Politik der offenen Tür anprangerte, welche die Türkei zum größten Aufnahmeland für Geflüchtete in der Welt machte. Der Bürgermeisterkandidat von Zafer, der fremdenfeindlichsten der türkischen Parteien, sagte, er werde Istanbul für Migrant*innen so unerträglich machen, dass sie abwandern würden. Obwohl die Einwanderungspolitik in erster Linie auf nationaler Ebene gestaltet wird, werden die bevorstehenden Wahlen die Geflüchteten, welche bereits mit Rassismus, Razzien und einem Anstieg der Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben, nur noch mehr belasten.

In diesem Jahr wird es auch zu weiteren Kürzungen bei der humanitären Hilfe für Syrien und andere Regionen kommen, da gleichzeitig Krisen im Gazastreifen, im Sudan, in der Ukraine und in vielen anderen Ländern herrschen. Die Konkurrenz um die Ressourcen wird zusätzlichen Druck auf Aufnahmeländer wie die Türkei ausüben, welche wiederum die Last auf die Geflüchteten abwälzen werden. Von ihren Aufnahmestaaten unter Druck gesetzt und ohne eine Möglichkeit der Rückkehr in ihre Heimatländer, könnte es auf diese Weise dazu kommen, dass die Geflüchteten sich möglicherweise gezwungen fühlen, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Zusätzliche internationale Hilfe kann jedoch die Unterstützung für Geflüchtetenprogramme ausweiten und dazu beitragen, die Belastung für die Geflüchteten zu verringern. Der Schwerpunkt sollte dabei auf Initiativen liegen, die das Bewusstsein für Rechtsfragen schärfen und türkische Sprachkurse anbieten. Die Geldgeber*innen sollten weiterhin die Bemühungen unterstützen, die Geflüchteten aus dem informellen Arbeitsmarkt herauszuholen, wo sie von Arbeitgeber*innen ausgebeutet und von Arbeitnehmer*innen beschuldigt werden, ihnen die Arbeitsplätze wegzunehmen und Steuern zu hinterziehen. Sie sollten sich bemühen, die Geflüchteten in legalen Beschäftigungen unterzubringen, wo sie beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben und bei ihrer eigenen Integration helfen können. Die Geber*innen sollten auch die derzeitige Einschränkung überdenken, wonach die Aufnahme einer formellen Beschäftigung dazu führt, dass Geflüchtete keinen Anspruch auf Bargeldunterstützung haben. Das wäre vor allem im ersten Jahr wichtig, da erfahrungsgemäß der Arbeitsplatz für die Geflüchteten nicht sicher ist.

Die türkische Regierung sollte ihrerseits den Geflüchteten mehr Flexibilität einräumen, damit sie in der Provinz arbeiten können, die ihren Beschäftigungsaussichten am besten entspricht, anstatt sie an den Ort zu binden, an dem sie registriert sind. Darüber hinaus können legale Wege für Geflüchtete, um sicher in ein Drittland zu gelangen - einschließlich Neuansiedlung, Familienzusammenführung, Mitarbeiter*innenvisumsprogramme und mehr - dazu beitragen, denjenigen zu helfen, die zwischen den Stühlen sitzen.

Das kommende Jahr wird für niemanden einfach werden. Im Januar versuchten 50 Prozent mehr Geflüchtete als zu diesem Zeitpunkt im letzten Jahr auf dem Seeweg aus der Türkei zu fliehen. 160 Prozent mehr versuchten, über die westliche Landgrenze zu gelangen. Die Geflüchteten brauchen jetzt bessere Unterstützung und eine stabilere Grundlage, damit sie auf eigenen Füßen stehen können und sich ihr Leben nicht weiterhin verschlechtert.


[1] In der Türkei gibt es eine geografische Beschränkung für den Geflüchtetenstatus, so dass die Türkei nicht verpflichtet ist, Asylbewerber*innen, die von außerhalb Europas kommen, den Geflüchtetenstatus zu gewähren. Einer Antragsteller*in auf internationalen Schutz, die nicht aus Europa stammt und auf der Grundlage der Konvention von 1951 als Geflüchtete anerkannt wird, wird ein bedingter Geflüchtetenstatus gewährt. Dieser bietet einen geringeren Schutz als der, der Geflüchteten aus Europa gewährt wird.