„Ein russisches ‚Nein zum Krieg gegen die Ukraine‘ reicht nicht“

Interview

Russlands Krieg begann nach dem Maidan im Februar 2014 als sich die Menschen dem Einfluss Moskaus entziehen wollten. Über die Notwendigkeit, Russland zu deimperialisieren und das Verständnis der Ukraine in Deutschland spricht Oleksandra Bienert, Gründerin der Allianz der Ukrainischen Organisationen in Deutschland.

Menschenmenge vor dem Roten Rathaus in Berlin, zu sehen sind viele Plakate in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb und Plakate mit der Aufschrift "No War"
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Demonstration gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, Berlin, 13. März 2022.

Das Interview führten Anna Antonina Łysiak und Robert Sperfeld.

Nach bald zwei Jahren des vollumfänglichen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine: wie hat sich nach Deiner Beobachtung der öffentliche Diskurs in Deutschland in dieser Zeit entwickelt?

Der öffentliche Diskurs hat sich weiterentwickelt, es sind mehrere wichtige Publikationen erschienen, in denen auch auf stark verbreitete Mythen eingegangen wird. Wir erfahren viel über die Ukraine sowie über die deutsche Wahrnehmung der Ukraine. Und trotzdem scheint es mir, dass es noch viele blinde Flecken gibt.

Der Krieg hat 2014 angefangen.

Dies wird insbesondere jetzt, im Februar 2024, deutlich bei Veranstaltungen anlässlich des Jahrestages der vollumfassenden russischen Invasion der Ukraine. In vielen Ankündigungen lese ich: „zwei Jahre Krieg“. Dabei  dauert der russische Krieg in der Ukraine bereits seit zehn Jahren, es wäre daher richtig, beispielsweise zu schreiben: „der seit 2014 andauernde russische Krieg in der Ukraine, der sich 2022 in eine vollumfassende Invasion ausweitete“.

Warum ist das wichtig? Der Krieg hat 2014 angefangen, anschließend an die „Revolution der Würde“. Die „Revolution der Würde“ (oder auch „Maidan“ genannt) 2013/2014 war der Moment, in dem Ukrainer*innen lautstark gesagt haben, dass sie nicht mehr unter dem Einfluss des russischen Imperiums stehen wollen und sich diesem Einfluss entzogen haben.

Porträt von Oleksandra Bienert. Sie trägt einen roten Pullover, lange, dunkelblonde Haare und eine Brille

Oleksandra Bienert ist eine in Chernivtsi (Ukraine) geborene und in Berlin lebende ukrainische Forscherin, Fotografin und Menschenrechtsaktivistin. Sie hat in Berlin Public History (M.A.) studiert.

Zurzeit schreibt sie ihre Doktorarbeit über weibliche Intellektuelle aus der Ukraine im Berlin der 1920er Jahre, engagiert sich ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzende der Allianz Ukrainischer Organisationen e.V. und stärkt hauptamtlich als Trainerin für politische Bildung Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte.

Oleksandra Bienert wurde 2022 als erste Ukrainerin mit dem Verdienstorden des Landes Berlin für ihr langjähriges Engagement im Bereich der deutsch-ukrainischen Beziehungen ausgezeichnet.

Natürlich können wir heute streiten, ob Russland noch ein „richtiges“ Imperium ist oder nicht. Fakt ist aber, dass Russland weiterhin Einfluss und Kontrolle über bestimmte mit diesem imperialen Staat in der Geschichte verbundene Länder, vormals russische Kolonien, ausübt. Von den in Russland kolonisierten Völkern wie Chechen*innen oder Buriat*innen ganz zu schweigen. Russland hat zudem weiterhin eine imperiale Wahrnehmung des eigenen Platzes in der Welt und verbreitet diese. Dies bezieht sich auch auf Hierarchien in den Beziehungen und in der Betrachtung von Kultur und Sprache bestimmter anderen Länder. So sprechen einige Menschen aus Russland über Ukrainer*innen weiterhin als „minderwertig“ und „nicht existenzberechtigt“.

Ein Imperium hat zudem starke Kontrolle über seine (ehemalige) Kolonien. Der ukrainische Bücher- und Filmmarkt zum Beispiel erlebte nach 1991 lange weiterhin russische imperiale Einflüsse. Dies äußerte sich in den Inhalten, in der Anzahl herausgegebener Bücher, in Verträgen mit Agenturen, die Verlage aus Westeuropa meistens mit einer Agentur in Moskau für die Verbreitung in der ganzen Region schlossen. Ein weiteres anschauliches Beispiel für diese imperialen Einflüsse ist die Korruption. Die stärksten Geldflüsse aus der Ukraine waren nach 1991 mit Moskau verbunden. Durch diese Geldflüsse wurden ukrainische politische Eliten abhängig gemacht.

In persönlichen Schicksalen äußert sich das absichtliche Schaffen einer Abhängigkeit darin, dass Menschen, die Anerkennung erfahren wollen (real, oder imaginär), in Moskau zu finden sein müssen. Ich erinnere mich gut an ein Beispiel aus meiner privaten Umgebung: in Chernivtsi, wo ich aufgewachsen bin, habe ich gemeinsam mit einer anderen Frau Leistungssport getrieben. Sie wollte unbedingt Karriere in der Modeindustrie machen. 2013 ging sie nach Moskau. Heute ist sie mit einem russischen Oligarchen verheiratet, sie haben ein gemeinsames Kind. Sie lebt mit ihrer Tochter in Frankreich. Zur Invasion der Ukraine schweigt sie. Diese Geschichte erinnert mich stark an ähnliche Fälle, in denen Ukrainer*innen ebenfalls in Moskau ihre Anerkennung gesucht haben (z. B. die Produzenten Oleksandr Rodniansky und Vlad Ryashyn sowie der Musiker Oleksandr Tsekalo).

Als die Ukrainer*innen sich von diesem imperialen Einfluss ernsthaft zu lösen versuchten, hat Russland 2014 den Krieg in der Ukraine angefangen. Die russische Okkupation der Krym wurde am 20. Februar 2014 begonnen und anschließend begannen Kämpfe in der Ostukraine. Dieser Krieg wurde von Russland begonnen, weil es den Verlust seines Einflusses auf die Ukraine als eine essenzielle Bedrohung für das Fortbestehen seiner imperialen Identität sieht. Dieser Verlust bedeutet für das Imperium den Verlust seines Fundaments. Der Krieg in der Ukraine steht in einer klaren geschichtlichen Kontinuität.

Wie wir also in Deutschland sprechen, welche Begriffe wir verwenden, reproduziert bestehende Narrative. „Zwei Jahre Krieg“ zu sagen heißt bewusst oder unbewusst die Tatsache zu unterschlagen, dass dieser Krieg ein imperialer Krieg ist. Wenn wir „zwei Jahre Krieg“ sagen, verkennen wir nicht nur die Fakten. Wir verkennen den Grund des Krieges und übernehmen die Sicht russischer Propaganda darauf. Der öffentliche Diskurs in Deutschland über diesen Krieg sollte sensibel geführt werden.

Kann man inzwischen über die „besser informierte Solidarität“ mit der Ukraine in Deutschland sprechen, für die die Unterzeichner*innen des Appells im Mai plädiert haben? Wie sehr ist inzwischen in Deutschland ein Verständnis der Ukraine als historisch und kulturell eigenständiger Staat gewachsen, das die sowjet-russische Prägung des deutschen Blicks auf das östliche Europa reduziert?

Wir befinden uns in Deutschland, wo Russland Jahrhunderte lang seine Positionen und seine Kultur über die deutsch-russische Beziehungen verbreiten konnte. Dies müssen wir uns immer vor Augen führen und mitbedenken. Das heißt, die Frage, ob es eine „besser informierte Solidarität“ gibt, muss man in einem Kontext der imperialen Beziehungen und der Machtaufteilung in solchen Beziehungen beantworten. Ein Imperium ist aufgrund seiner Macht bekannter, weil es mehr Ressourcen in die Verbreitung seiner eigenen Kultur investieren kann. Man wird zum Beispiel auch heute selbstverständlich zu einem Konzert eines russischen Pianisten oder Komponisten eingeladen. Wenn wir über das Verständnis der Ukraine in Deutschland sprechen, bedeutet es auch, das Narrativ der russischen Kultur als einer "großen Kultur" in Frage zu stellen. Nicht, weil russische Kultur schlecht sei. Sondern weil es keine „großen“ und keine „kleinen“ Kulturen gibt. Es gibt Kulturen, die durch die verstärkte Einbringung von eigenen Ressourcen attraktiver gemacht werden sowie mehr Macht haben und solche, die weniger Macht haben.

Was die Kenntnisse über die Ukraine angeht, denke ich, dass es schon eine Solidarität gibt. Auch das Verständnis von der Ukraine als einem eigenständigen Staat ist gewachsen. Und trotzdem liegt noch viel Arbeit vor uns. Wir wissen immer noch zu wenig über die Schlüsselereignisse in der ukrainischen Geschichte. Wir wissen beispielsweise zu wenig darüber, dass die Ukraine eine entscheidende Rolle beim Zerfall der Sowjetunion gespielt hat. Wir wissen zu wenig über die drei Revolutionen und deren Folge, die in der Ukraine seit 1990 stattfanden. Wir wissen zu wenig über sowjetische Repressionen und über die Vernichtung der ukrainischen Kultur. Um das Ausmaß der imperialen Zerstörung von ukrainischer Kultur zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass im Mai 1964 600.000 Bücher in der Staatlichen Öffentlichen Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in Kyiv durch Brandstiftung vernichtet wurden. Das Feuer verheerte die gesamte Ukrainistik-Abteilung. Es handelte sich um 3.280 Regalmeter von Büchern, auch Bestände mit Literatur aus dem Mittelalter. Und sie waren nicht katalogisiert, das heißt, teilweise wissen wir gar nicht, was dort verbrannt wurde.

Um die noch bestehenden Lücken in unserer Wahrnehmung der Ukraine zu erfassen, muss die Ukrainistik in Deutschland weiter ausgebaut werden. Es müssen neue Professuren und Lehrstühle geschaffen werden. Und zwar in mehreren Bundesländern.

Deutsche Institutionen oder sonstige Ausrichtende kultureller oder gesellschaftlicher Veranstaltungen sind vielfach bestrebt, ukrainische und russische Gäste miteinander in den Dialog zu bringen. Warum sind diese Formate für die Ukrainer*innen grundsätzlich problematisch? Gibt es einen Weg, dass sie hilfreich sein könnten? Wie könnte er aussehen? Immerhin leben in Deutschland auch zahlreiche Menschen, die Russland aufgrund des Angriffskrieges verlassen haben oder aufgrund von Repressionen verlassen mussten. 

Tatsächlich bekommen meine Freund*innen oder ich manchmal Einladungen von deutschen Institutionen zu einem Dialog mit Russ*innen, die anscheinend gut gemeint sind, jedoch, aus unserer Sicht, ein Unverständnis der derzeitigen Situation zeigen.

Für Menschen in der Ukraine, die derzeit von Russ*innen wegen ihrer Zugehörigkeit zum ukrainischen Volk entführt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet werden, ist es in der aktiven Phase des russischen genozidalen Angriffskrieges in der Ukraine, die weiterhin von grausamen russischen Kriegsverbrechen begleitet wird, nicht vorstellbar, in einen Dialog mit Russ*innen zu treten. Jeder Tag dieses russischen Krieges bringt Leid für die Ukraine. Der Krieg und das Leid müssen aufhören. Zur Zeit müsste man vor allem eins weiterhin tun: der Ukraine mit allen Mitteln helfen, diesen seit 2014 andauerndem russischen Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen. Ja, auch mit weiteren Waffen. Für mich bedeutet der ukrainische Sieg in diesem Krieg den Rückzug der Russ*innen und die Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität in den Grenzen von 1991.

Über Jahrhunderte hat Russland die Ukraine systematisch im imperialen Sinne beraubt.

Über Jahrhunderte hat Russland die Ukraine systematisch im imperialen Sinne beraubt; das betrifft die Sprache, die Geschichte, die Kultur und die Menschen. Um auf historische Parallelen mit heute zu sprechen zu kommen: Im 18. Jahrhundert hat Katharina II. angefangen, was von anderen Autokraten des russischen Imperiums fortgesetzt wurde - systematisch den ukrainischen Adel mit dem russischen zu verheiraten. Damit wurde erreicht, dass die ukrainische Aristokratie mit der russischen verschmolz, „russifiziert“ wurde. Am Ende existierte der ukrainische Adel kaum noch. Doch Katharina II. hat eines nicht bedacht: Aufgrund ihrer Geringschätzung der ukrainischen Bauern hat sie diese nicht in diese Politik miteinbezogen. Am Ende überlebte die ukrainische Kultur zum großen Teil wortwörtlich „im Dorf“. Die Worte Putins, der behauptet, die ukrainische Sprache „gäbe es nicht“, ebenso „wenig wie die ukrainische Nation“, finden wir auch schon beispielsweise in der 1863 von Piotr Valuiev (damaliger Innenminister des russischen Imperiums) herausgegebenen Begründung des Verbots der ukrainischen Sprache wieder.

Was Katharina II. versäumte, versuchte Stalin später zu vollenden. Unter seiner Herrschaft wurde eine künstlich verursachte Hungersnot unter den ukrainischen Bauern organisiert, auch bekannt als „Holodomor“, bei der Millionen von ihnen vorsätzlich getötet wurden, was der Deutsche Bundestag 2022 als Völkermord eingeordnet hat. Schließlich fanden systematische Erschießungen ukrainischer Intellektueller in den 1930er Jahren statt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die bereits in den 1930er Jahren begonnene Deportationen von Ukrainer*innen nach Sibirien fort. Zehntausende Menschen wurden deportiert. Auch die weitere Entwicklung der ukrainischen Territorien im 20. Jahrhundert zeigte, dass die Sowjetunion ein russisches Imperium in veränderter Form darstellte und die Ukraine weiterhin als eine „innere Kolonie“ behandelte. Dies sind nur ein paar Beispiele aus der Geschichte.

Was in dieser Situation helfen würde, sind keine Dialoge, sondern Gerechtigkeit herzustellen. Auch dadurch, dass man sich in Deutschland kritisch hinterfragt. Jede einzelne Institution und jede Einrichtung in Deutschland bräuchte derzeit einen eigenen (selbst-) kritischen Blick auf ihre Geschichte und Gegenwart und einen öffentlichen Diskurs über folgende Fragen: Wie haben wir die ukrainische (aber auch georgische, belarusische, litauische, etc) Geschichte bei uns dargestellt? Haben wir womöglich ukrainische Filme, die es nie in russischer Fassung gab, in aus dem Russischen transkribierten Titeln bei uns aufgenommen, wie es neulich die DEFA-Stiftung in ihrem Bestand feststellte? Oder womöglich ukrainische Künstler*innen als „Russ*innen“ bezeichnet? Im Endeffekt gilt es dabei zu fragen: Inwiefern haben wir den imperialen russischen Gedanken in unserer Arbeit, auch wenn ungewollt, multipliziert und damit den imperialen Ansichten Russlands (weiter) untermauert? Ferner kann man sich auch fragen, wie unsere Reaktion auf russische Verbrechen in Tschetschenien, Georgien, Mali oder Syrien war? Beim letzten Beispiel ist es kein Geheimnis mehr, dass russische Angriffe Bashar al-Assad geholfen haben, an der Macht zu bleiben.

Bevor wir Ukrainer*innen über einen Dialog mit Russ*innen nachdenken, muss die Ukraine zuerst diesen Krieg gewinnen. Russ*innen müssen daraufhin um Verzeihung bitten. Die russischen Kriegsverbrechen müssen aufgearbeitet werden, die Verantwortlichen müssen vor Gericht gebracht werden. Die Ukraine muss Reparationen für die von Russland verursachten Zerstörungen und das Leid erhalten. Darüber hinaus braucht die Ukraine Garantien, dass Russland nie wieder die Ukraine angreift. Diese Garantien sollen auch eine vollständige Deimperialisierung Russlands umfassen. Russ*innen müssten dabei Verantwortung für ihre Geschichte übernehmen.

Die Übernahme der Verantwortung sollte im Namen der Zukunft geschehen. Dies sollte auch passieren, damit in Russland eine Diskussion über Deimperialisierung anfängt. Zu sagen „net voyne“ („nein zum Krieg“) oder „ya protiv voyny“ („ich bin gegen den Krieg“) reicht nicht, weil es zu keiner Veränderung innerhalb Russlands führt. Ebenfalls führt es zu keiner Veränderung, wenn man sich als Opfer des eigenen Staates fühlt. Solange Menschen aus Russland keine Verantwortung – und zwar irgendwann auch eine kollektive – für die Taten ihres eigenen Staates übernehmen, werden sie (indirekt) das Imperium unterstützen, weil sie eben zum weiteren Bestehen dieses Imperiums beitragen. Und solange dieser imperiale Staat lebt und solange keine Deimperialisierung stattfindet gibt es ein Risiko, dass die Geschichte sich (immer wieder) wiederholt. Russ*innen sollen – und zwar unabhängig davon, wo sie sich befinden, ob im Ausland oder in Russland - Verantwortung  für alle Jahre in der Vergangenheit übernehmen, damit Russland uns in der Zukunft nicht wieder überfällt. Ich möchte betonen, dass es mir dabei um Verantwortung geht und nicht um Schuld. Die Frage der Schuld macht jeder mit seinem eigenen Gewissen aus. Wenn innerhalb Russlands keine Diskussion um Deimperialisierung stattfindet, wer gibt mir eine Garantie, dass Russland die Ukraine in zehn Jahren nicht wieder überfällt? Genau dabei könnten Deutsche helfen. Diesen Prozess wäre es wichtig bereits jetzt zu beginnen. Bis dies geschieht, wird jeder Dialog mit Russ*innen von ukrainischer Seite ein Dialog mit einem Imperium sein, das seine Verantwortung nicht anerkannt hat.

Welche Lösung siehst Du für Formate der internationalen Zusammenarbeit, die vor Februar 2022 mit ukrainischer und russischer zivilgesellschaftlicher Beteiligung stattgefunden haben? Wie sollten – in Deiner Einschätzung – Akteure der internationalen Arbeit in Deutschland agieren?

Es wäre sehr wichtig, die ukrainische Zivilgesellschaft weiterhin zu unterstützen. In der Ukraine passiert derzeit vieles gleichzeitig: der seit 2014 andauernde russische Krieg, Reformen, der Kampf der Gesellschaft um den Ausbau des Rechtsstaates. Allein schon die Ratifizierung der Istanbuler Konvention gegen Gewalt an Frauen im Juni 2022 und die Tatsache, dass ein Gesetzentwurf über eingetragene Partnerschaften 2023 im Verteidigungsministerium und in mehreren Ausschüssen des ukrainischen Parlaments positiv besprochen wurde, zeigt, wie beständig die demokratischen Bestrebungen und die Kraft der ukrainischen Zivilgesellschaft ist. Auch die Dekolonisierung – eine Wiedererlangung von Interessenvertretung auf allen Ebenen – ist im vollem Gange. Es gibt viele Diskussionen beispielsweise unter Kulturschaffenden über die russischen imperialen Einflüsse auf die Ukraine und was sie für uns heute bedeuten. In dem empfehlenswerten Podcast „Wo sind wir?“ beschäftigen sich die Wissenschaftlerinnen Mariam Nayyem und Valentyna Sotnykova explizit mit dem Thema der kolonialen Vergangenheit der Ukraine und ihrem Einfluss auf die Gegenwart. Dies alles passiert vor allem aufgrund der Aktivitäten der Zivilgesellschaft. Daher ist es wichtig, die Zivilgesellschaft weiterhin zu unterstützen.

Beim Einladen russischer Kulturschaffender und Aktivist*innen wäre es wichtig, eine ethische Balance vor Augen zu haben: ukrainische Menschenrechtler, Filmemacher, Autoren können derzeit weniger (oder gar nicht) auftreten, auch weniger Kultur produzieren, als russische. Weil sie sich in russischer Kriegsgefangenschaft befinden, wie ein enger Freund von mir, der bekannte Menschenrechtler Maksym Butkevych. Weil sie an der Front sind, um ihr Land zu verteidigen wie der Schriftsteller Artem Chekh oder die Filmemacherin Alissa Kovalenko. Weil sie von der russischen Armee ermordet wurden, wie der Fotograf Maks Levin, der nach dem Abzug der russischen Armee in der Nähe von Kyjiw mit zusammengebundenen Händen hingerichtet aufgefunden wurde. Oder weil sie an Front getötet wurden wie der bekannte Filmeditor Viktor Onys'ko.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist ein imperialer Krieg. Daher spielt unser Umgang mit russischer Kultur eine große Rolle dabei.

Der russischen Zivilgesellschaft können die internationalen Akteure helfen, eine Diskussion über die Deimperialisierung Russlands zu starten. Ich beobachte aufmerksam, was Menschen aus Russland, die kritisch zum russischen Regime stehen und gegen den Krieg sind, in Berlin und Deutschland machen. Es gibt Theaterstücke über das derzeitige Geschehen in Russland, bundesweite Treffen zur Besprechungen der Lage von Menschen, die in Russland als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt wurden usw. Was dabei auffällt: das Wort „Deimperialisierung Russlands“ fehlt in diesen Kulturproduktionen und öffentlichen Debatten.

Menschen besprechen dabei ihre komplizierte Lage, beklagen sich über die Ausweglosigkeit, was durchaus zu verstehen ist, aber sie führen kaum Diskussionen darüber, wie Russland und die Denkweise von Menschen aus Russland deimperialisiert werden können.

Was meine ich damit genau: Wie kann ein Mensch in Russland oder ein Mensch, der aus Russland stammt, imperiale Spuren des eigenen Denkens erkennen? Wie kann dieser Mensch reflektieren, wie er zu Ukrainer*innen steht? Wie kann er darüber reflektieren, dass die Bezeichnung von Ukrainern in den Texten von russischen Literaturwissenschaftlern und Ethnografen mindestens seit dem 19. Jahrhundert („kein richtiger Staat“, „Ukrainer*innen sind faul“, „Ukrainer*innen saufen nur horilka und schlagen sich“, „sind halbwild“, „emotional“, „unzivilisiert“) orientalistisch ist, was bis heute in der Rhetorik des russischen Staates gegenüber den Ukrainer*innen wiederholt wird? Diese Reproduktion von bereits seit Jahrhunderten bestehenden Stereotypen sehen wir in derge Untermauerung des derzeitigen russischen Krieges in der Ukraine. Wir müssen uns alle mit dieser Sichtweise auseinandersetzen. Wir in der Ukraine sowie Menschen in Russland.

Wenn internationale Akteure darüber nachdenken, wie sie etwas in den ukrainisch-russischen Beziehungen bewirken können, wäre es wichtig, zuerst Voraussetzungen für diese Beziehungen zu schaffen. Um miteinander ins Gespräch zu kommen, muss man erst einmal seine eigenen Hausaufgaben machen. Jede Seite muss wissen, wo sie steht. Die Ukrainer*innen machen derzeit ihre eigenen Hausaufgaben sehr intensiv: sie verteidigen ihr Land und beschäftigen sich mit der Dekolonisierung. Menschen in Russland sollten ebenfalls zuerst ihre Hausaufgaben erledigen: sich über ihre imperiale Sichtweise auf ihren Nachbarn bewusst werden, diese Sichtweise dekonstruieren. Die russische Gesellschaft muss verändert werden. Genau da können internationale Akteur*innen ansetzen. Sie können einen Rahmen dafür geben, damit russische Künstler*innen und Intellektuelle eine Diskussion innerhalb der künstlerischen und wissenschaftlichen Kreise über ihr eigenes imperiales Denken beginnen können.

In Deutschland ist der Umgang mit russischem Kulturgut und mit russischen Kunst- und Kulturschaffenden umstritten. Warum ist diese Frage elementar mit dem Kontext des Angriffskrieges verwoben, selbst wenn betreffende Werke aus anderen Epochen stammen oder die betreffenden Personen sich glaubwürdig von der russischen Kriegspolitik distanzieren?

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist ein imperialer Krieg. Daher spielt unser Umgang mit russischer Kultur eine große Rolle dabei. Ein Imperium ist kein theoretisches Gebilde, es wird von einzelnen Menschen getragen. Selbst wenn Menschen aus Russland gegen Putin und diesen Krieg sind heißt das nicht automatisch, dass sie eine anti-imperiale Sichtweise haben.
Was hat das konkret mit der russischen Kultur zu tun? Die bekanntesten russischen Dichter wie Pushkin, Lermontov oder Dostoievskii waren Unterstützer des Imperiums. Die imperialen Bezüge finden wir bei vielen Kulturschaffenden, auch bei Brodsky zum Beispiel. Das heißt für uns heute: wenn wir russische Kulturprodukte zeigen, laufen wir immer Gefahr, imperiale Sichtweisen zu reproduzieren. Dies gilt sowohl für Werke aus der Vergangenheit als auch aus der Gegenwart.

In dieser Situation braucht es starke Institutionen in der ukrainischen Community

Wie kann die kriegsbedingt so stark angewachsene ukrainische Community in Deutschland sich selbst noch stärker in der deutschen Öffentlichkeit – auch bei den besprochenen Themen – einmischen? Und welche Angebote braucht die Community aus der deutschen Gesellschaft dafür?

Die Ukrainer*innen, die sich im Ausland befinden, sind in einer komplizierten Position: Wir sind mit den Überresten des Imperiums in uns selbst konfrontiert; wir sind mit dem Imperium von außen konfrontiert, mit dieser physischen Zerstörung. Gleichzeitig kämpfen wir gegen Ungleichheiten in der deutschen Gesellschaft, die selbst teilweise ausschließend gegenüber Migrant*innen agiert, mit einer speziellen, postkolonialen Haltung gegenüber Migrant*innen aus Osteuropa, und in der es wenig Reflexion über diese Haltung gibt. Ich beobachte außerdem, wie der Rassismus im deutschen System generell Migrant*innen ausgrenzt, die versuchen, es zu betreten; dies gilt zum Beispiel sogar für Proteste gegen rechtsextreme Kräfte. Auch, wenn unser öffentlicher Dienst sich die Aufgabe gestellt hat, mehr Diversität unter Mitarbeitenden zu schaffen, ist es für Menschen mit Migrationsgeschichte schwer, in leitende Positionen zu kommen.

Das bedeutet für die stark angewachsene ukrainische Community, die durch ihre Größe auch eine Verantwortung trägt, auch die Frage nach der Richtung der Kräfte zu stellen. Reagieren wir nur? Kämpfen wir, um unsere Existenzberechtigung zu beweisen, um zu beweisen, dass unsere Sprache eine eigenständige Sprache ist? Dass wir Waffen für die Ukraine brauchen, um uns zu verteidigen? Oder können wir unsere Kräfte auch für eine Gesellschaft in Deutschland einsetzen, die weniger Barrieren hat? Es wäre gut, wenn wir uns mehr dafür engagieren könnten. In dieser Situation braucht es starke Institutionen in der ukrainischen Community. Diese Institutionen versuchen wir gerade unter anderem mit der Allianz Ukrainischer Organisationen e.V. zu schaffen, wo wir uns mit anderen vernetzen und diese Vernetzung bundesweit ausbauen. Es wäre wichtig, diese Strukturen auch institutionell zu unterstützen.