Wahlen im Senegal: „Macky Sall kann seinen Willen nicht dem gesamten Volk aufzwingen“

Interview

Mit der kurzfristigen Verlegung der Wahlen stürzte der Präsident Macky Sall den Senegal in eine schwere politische Krise. Nun hat der Verfassungsrat in einer historischen Entscheidung die Verschiebung revidiert. Der Politologe Professor Soudieck Dione analysiert im Gespräch mit Fabian Heppe, Leiter unseres Büros in Dakar, die politische Tragweite des Urteils und erklärt, wie es für den Senegal nun weitergeht.

Drei Frauen laufen vor einer Wand mitr Wahplakaten lang.
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Dakar, Senegal, 2024.

Der Verfassungsrat Senegals erklärte am 15. Februar die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen für verfassungswidrig. Sowohl das Dekret des Präsidenten zur Aufhebung, als auch das entsprechende parlamentarische Gesetz zur Verlegung der Wahlen auf Ende 2024 wurden für nichtig erklärt. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung der höchsten Justizinstanz?

Diese Entscheidung ist einzigartig in der Geschichte Senegals und kann als historisch bezeichnet werden. Das Urteil des Verfassungsrates ist die Folge einer Reihe von turbulenten politischen Ereignissen der letzten Wochen, die nicht zur langen demokratischen Tradition des Landes passen. Die plötzliche Absage der Wahlen durch den Präsidenten Macky Sall, nur wenige Stunden vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes, war für viele Senegales*innen ein Schock. Zum ersten Mal seit Senegals Unabhängigkeit werden die Präsidentschaftswahlen nicht regulär stattfinden.

Der Verfassungsrat stellte nun mit seinem Urteil klar, dass weder der Präsident noch das Parlament die verfassungsrechtliche Befugnis haben, die Wahlen abzusagen oder zu verschieben. Der Rat kippte somit erstmalig ein Verfassungsgesetz, das von der Nationalversammlung mit einer qualifizierten Mehrheit beschlossen wurde. Auch deswegen ist die Entscheidung herausragend und stärkt das demokratische Prinzip, wonach die Macht vom Volk ausgeht und durch seine gewählten Vertreter*innen oder Referenden ausgeübt wird. Weder Teile der Bevölkerung noch eine Einzelperson kann die Ausübung der nationalen Souveränität für sich beanspruchen.

Der Verfassungsrat hat verdeutlicht, dass eine Verlängerung der Amtszeit von Macky Sall um 10 Monate aufgrund der verschobenen Wahl die verfassungsrechtlich festgelegte, begrenzte Mandatszeit von 5 Jahren verletzt. Demnach endet Salls Zeit als Präsident nun regulär am 2. April dieses Jahres. Wann finden die Wahlen statt?  

Der Richterspruch unterstreicht, dass die republikanische Staatsform des Senegals, die Modalitäten der Präsidentschaftswahlen, die Anzahl der Mandate und die Dauer der Amtszeit gemäß Artikel 103 unantastbare Rechtsklauseln der Verfassung sind. Sie können nicht einfach durch ein Parlamentsgesetz geändert werden. Mit Blick auf den Verlauf der Präsidentschaftswahlen war der Verfassungsrat deutlich: Er betonte, dass die Amtszeit von Macky Sall am 2. April endet und weist die zuständigen Behörden an, die Wahlen so schnell wie möglich zu organisieren. Meiner Auffassung nach bedeutet dies, dass die Präsidentschaftswahlen noch vor dem Ende der Amtszeit Salls im April stattfinden werden.

Die Richter überlassen den verschiedenen politischen Akteuren jedoch einen gewissen Spielraum mit Blick auf ein konkretes Datum und nehmen damit Rücksicht auf die Bedürfnisse aller Beteiligten. Außerdem wird dadurch dem Präsidenten ein gesichtswahrender Ausweg eröffnet, seinen vorher angekündigten nationalen Dialog noch durchzuführen. Unter der Führung des Präsidenten können sich nun im Rahmen dieses Dialogs alle Vertreter*innen der Regierung und der Opposition darauf verständigen, wie die Wahlen organisiert werden und wann sie stattfinden sollen.

In einer ersten Stellungnahme zum Urteil kündigte die Präsidentschaft bereits an, die Entscheidung des Verfassungsrates vollständig umzusetzen. Kann man dieser Ankündigung trauen oder könnten die Wahlen in letzter Minute nochmals hinausgezögert werden? 

Ich denke nicht, denn Präsident Sall hat keine andere Alternative. Er ist politisch isoliert und nur wenige Menschen im Senegal unterstützen seine Entscheidung, die Wahl zu verschieben. In den letzten Tagen haben wir gesehen, dass alle zivilgesellschaftlichen Kräfte – seien es Gewerkschaften, Akademiker*innen, religiöse Führer oder Wirtschaftsverbände – sich geschlossen gegen eine Verschiebung der Wahlen stellen. Auch die internationale Gemeinschaft und vor allem wichtige Partnerländer wie Frankreich, die USA oder Deutschland haben sich vom Vorgehen der Regierung distanziert und die Entscheidung Salls missbilligt. Selbst innerhalb des eigenen politischen Lagers Benno Bokk Yakaar gibt es viele Anhänger*innen, die mit einem Aufschub der Wahlen nicht einverstanden sind.

Viele Menschen haben das Vertrauen in ihre demokratischen Institutionen verloren

Von einigen politischen Beobachter*innen wird die Entscheidung des Verfassungsrates als ein Zeichen für funktionierende Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung gesehen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die Entscheidung zeigt, dass demokratische Mechanismen in den Institutionen immer noch wirken. Der Verfassungsrat hat in seiner Entscheidung hervorgehoben, dass er eine regulierende Rolle in Bezug auf den Frieden, die öffentliche Ordnung und die Stabilität des Landes einnimmt. Jedoch muss dies im politischen Gesamtkontext betrachtet werden. Rechtsstaatliche Prinzipien sind in der senegalesischen Demokratie bei weitem nicht so verankert, wie es die Entscheidung des Verfassungsrates vermuten lässt. Formell ist die Justiz im Senegal zwar unabhängig, aber die Realität ist weitaus komplexer. Jeden Tag erleben die Sengales*innen in ihrem Alltag Situationen, die sie an einer effektiven Gewaltenteilung zweifeln lassen. Seit den gewaltsamen Protesten im Jahr 2021 wurden zahlreiche Menschen willkürlich festgenommen und monatelang ohne Gerichtsverhandlung eingesperrt. Aufgrund der vielen Korruptionsskandale, Gerichtsprozesse gegen Oppositionelle und der zunehmenden Repressionen durch Sicherheitskräfte hat das Vertrauen der Senegales*innen in ihre öffentlichen Institutionen in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Dies gefährdet die Demokratie als Ganzes.

Kurz nach der Urteilsverkündung wurden mehr als 130 vor allem junge Senegales*innen aus der Haft entlassen, die während der Proteste im vergangenen Jahr festgenommen wurden. Ist dies das Ergebnis einer Annäherung zwischen Macky Sall und dem inhaftierten Oppositionellen Ousmane Sonko?

Es verdeutlicht vor allem den enormen Druck, dem die aktuelle Regierung ausgesetzt ist. Offensichtlich läuft nicht alles nach Plan. In den letzten Monaten hat die Regierung erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Oppositionspartei PASTEF (Die Afrikanischen Patrioten Senegals für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit) zu bekämpfen und ihre Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen zu verhindern. Ende Juli 2023 machte die Regierung die PASTEF-Partei für die gewaltsamen Proteste verantwortlich und löste sie per Dekret auf. Viele ihrer Anhänger*innen mussten ins Gefängnis. Darüber hinaus wurde der beliebte Oppositionsführer Ousmane Sonko aufgrund einer gerichtlichen Verurteilung von den Wahlen ausgeschlossen. Er sitzt weiterhin in Haft.

Die Regierung hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass die Ersatzkandidatur von Bassirou Diomaye Faye, ebenfalls Mitglied von PASTEF, zugelassen wird. Auch er ist momentan inhaftiert, aber noch nicht verurteilt und kann daher formell noch an den Wahlen teilnehmen. Für die Regierungskoalition stellt dies ein echtes Problem dar, denn sie hat aufgrund der Entscheidung des Verfassungsrates nun keine Zeit mehr, effektiv gegen PASTEF vorzugehen und den neuen Kandidaten politisch zu neutralisieren. Daher ist der Präsident nun gezwungen, sich mit der Opposition zu arrangieren und eine Entspannung der Situation herbeizuführen. Die Freilassungen sind also durchaus in diesem Kontext zu betrachten.

Wahlen allein machen noch keine Demokratie

Nach anfänglicher Zurückhaltung haben sich viele diplomatische Vertretungen im Senegal klar positioniert und dazu aufgerufen, schnell transparente, inklusive und faire Wahlen zu organisieren. Wie erklären Sie die Reaktionen und welchen Einfluss haben sie?

Ich denke, dies hängt mit der unermüdlichen Entschlossenheit und Mobilisierung der senegalesischen Bevölkerung zusammen. Die internationale Gemeinschaft hat möglicherweise entschiedener reagiert, nachdem sie erkannt hat, dass die Senegales*innen geschlossen gegen die Wahlverschiebung sind. Insbesondere jene Partnerländer, die enge Beziehungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Senegal pflegen, wie beispielsweise Deutschland, müssen nun den Druck aufrechterhalten.

Es ist nicht akzeptabel, wenn der Wille eines Mannes dem gesamten Volk aufgezwungen wird. Zudem hat die aktuelle Krise im Senegal auch eine geopolitische Dimension. Angesichts der Militärputsche in umliegenden Ländern wie Mali, Guinea, Burkina Faso oder zuletzt Niger, ist der Senegal einer der wenigen verbleibenden stabilen Staaten in der Region, den man als strategischen Partner nicht auch noch verlieren möchte. Wenn diese politische Krise nicht rasch bewältigt wird, könnte dies schwerwiegende Folgen für die Sicherheit und Stabilität in der gesamten Region haben.

Es erscheint paradox, dass Präsident Macky Sall nun das Gleiche tut, wofür er andere ECOWAS-Länder kritisiert hat: sich nicht an demokratische Wahlverfahren zu halten.

Es wäre nicht das erste Mal. Während der Amtszeit von Präsident Macky Sall wurde beispielsweise immer wieder das Wahlgesetz kontrovers diskutiert und mehrmals unilateral geändert, um seine eigene Wiederwahl zu erleichtern. 2018 führte der Präsident das Parrainage-System ein, nach dem eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl als gültig bestätigt wird, wenn eine bestimmte Anzahl von Bürger*innen oder Abgeordneter ihre Zustimmung zu dieser Kandidatur geben. Der Gerichtshof der ECOWAS rügte diese Änderung des Wahlgesetzes 2021, da es dem Prinzip der freien Teilnahme an Wahlen widerspricht. Der Gerichtshof gab dem Staat Senegal sechs Monate Zeit, um das Urteil umzusetzen. Das ist nie geschehen.

Nach den Protesten 2012 gegen ein drittes Mandat des ehemaligen Präsidenten Abdoulaye Wade gehen die Menschen nun wieder für eine friedliche und demokratische Machtübergabe auf die Straßen. Viele Senegales*innen fragen sich, ob das Modell einer repräsentativen Demokratie überhaupt für ihre Gesellschaft geeignet ist. Wie können sie wieder Vertrauen in das politische System gewinnen?

Viele Menschen im Senegal sehen die Demokratie weiterhin als ein erstrebenswertes Ideal an, auf das wir alle hinarbeiten müssen. Richtig ist aber auch, dass die Demokratie in ihrer jetzigen Form noch nie von so vielen verschiedenen Seiten in Frage gestellt wurde. Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass die politische Klasse sich nicht auf akzeptable und anerkannte demokratische Spielregeln einigen kann, die einen fairen Wettbewerb um die Macht ermöglichen. Klar ist aber auch: Wahlen allein machen noch keine Demokratie aus. Wir müssen endlich vor allem in der Regierungsführung besser werden. Die Senegales*innen wollen, dass sich ihre Lebensqualität verbessert. Die Bereitstellung öffentlicher Güter muss endlich denjenigen zugutekommen, die sie am dringendsten benötigen. Ein wirklicher Übergang von einer formalen zu einer substantiellen Demokratie gelingt nur dann, wenn sich die Lebensbedingungen der Senegales*innen nachhaltig verbessern.

Das Interview führte Fabian Heppe, Leiter unseres Büros in Dakar, Senegal.


Maurice Soudieck Dione ist Dozent an der Universität Gaston Berger in Saint-Louis. Er hat einen Doktortitel in Politikwissenschaften von der Sciences Po Bordeaux. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem Demokratisierungsprozesse in Afrika, das Verhältnis von Religion und Politik, Medien und Macht sowie internationale Beziehungen. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel und hat zu mehreren Sammelbänden beigetragen, insbesondere zu Werken wie "L’Afrique des laïcités. État, religions et pouvoirs au Sud du Sahara" oder "Du risque en Afrique. Terrains et perspectives".