Wir sind die meisten: Jahrgang 1964

Essay

Noch nie haben so viele Menschen ihren 60. Geburtstag gefeiert wie in diesem Jahr. Anlass für einen Rückblick auf die Generation in Ost und West. Was verbindet, was trennt uns vor dem Hintergrund unterschiedlicher Biografien? Annett Gröschner begibt sich auf eine kleine Zeitreise.

Weltfestspiele der Jugend, Ost-Berlin, 1973.
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Weltfestspiele der Jugend, Ost-Berlin, 1973.

Im letzten Monat bin ich 60 geworden. Einen Tag vorher, als ich in Berlin mit der Ringbahn von Prenzlauer Allee eine halbe Runde zum Bundesplatz fuhr, fiel mir ein, dass ich, wenn die Mauer nicht gefallen und ich im Osten geblieben wäre, zum Geburtstag in Rente gehen würde – und von nun an in den Westen dürfte, vor 35 Jahren ein Sehnsuchtsdatum – vor allem wegen der Reisefreiheit.

Seit 1997 gibt es die sogenannte Frauenrente mit 60 nicht mehr. Ehrlich gesagt fiele mir auch nicht im Traum ein, an die Rente zu denken, ich bin mittendrin im Berufsleben und werde ohnehin arbeiten müssen, bis ich tot umfalle. Meine bisher erworbenen Rentenansprüche decken pro Monat gerade mal Miete, Strom, Gas, zehn Brote, vier Stück Butter, vier Liter Milch und ein Kilo Kaffee der Supermarkt-Eigenmarke (nach der man sich altersdiskriminierend zur untersten Regalreihe bücken muss), ein Kilo Äpfel oder Bananen und das Deutschlandticket.
Als Einzelne über den eigenen Jahrgang zu reden, ist noch schwieriger als über die eigene Generation.

Als ich zur Einstimmung dieses Artikels das Buch Abschied von den Boomern von Heinz Bude las, fand ich mich nur verzerrt darin wieder. Im Grunde schreibt Bude, wenn er nicht Zahlen präsentiert, sich selbst oder andere zitiert, über seine Hood und ihre Ansichten, eine Gruppe von Westberliner Hausbesetzer*innen, die aus den miefigen bundesdeutschen Kleinstädten ihrer Jugend geflohen sind. Ein Besuch des Ostteils der Stadt gehörte offenbar nicht zu ihren Abenteuern, sonst wäre der eine oder andere Unsinn über Boomer*innen-Ost vor 1989 im Buch vielleicht nicht geschrieben worden. Aber als Frau und in der DDR Sozialisierte sollte ich dankbar sein, überhaupt vorzukommen in solcherart Abhandlungen. Als vor zehn Jahren die Bilanzen des Jahrgangs 1964 medial verhandelt wurden, wir waren 50 geworden, kamen da kaum Ostdeutsche und nur wenige Frauen vor.

Noch nie gab es einen so starken Jahrgang wie diesen

Aber warum gerade der Jahrgang 1964? Einfacher Grund, wir sind die meisten. Wegen uns sieht die Alterspyramide wie ein zu dick geratener Weihnachtsbaum aus, wenn wir tot sind, wird sie einer Schneiderpuppe ähnlich sein. 2021 waren wir in der Bundesrepublik 1.394.000. Interessanterweise immer noch mehr als in unserem Geburtsjahr, weil Anfang der Neunziger Jahre, als alles im Aufbruch war, noch etliche aus anderen Weltgegenden dazukamen. Jede*r Sechste der Geburtskohorte ist außerhalb Deutschlands geboren.

1964 kamen in Deutschland 1.357.304 Kinder auf die Welt, davon im Westen 1.065.437, im Osten 291.867. Zum Vergleich: 2011, dem Jahr mit der niedrigsten Geburtenrate, waren es 663.000 in ganz Deutschland. Auf hundert Mädchen kamen 1964 106 Jungen.

Die meisten Kinder des Jahres 1964 hatten, wenn sie nicht Nachkömmlinge waren, Eltern, die nicht mehr direkt in den Nationalsozialismus verstrickt waren. Viele Mütter waren noch nicht einmal Schulkinder bei Kriegsende. Nicht wenige waren traumatisiert von Flucht oder Nächten im Luftschutzkeller, manche auch vom Exil oder weil sie in einem Versteck überlebt hatten. Geredet wurde darüber selten oder gar nicht, die transgenerative Weitergabe von Traumata wurde erst ein Thema, als wir längst erwachsen waren. Dass unter den großflächigen Grünanlagen noch die mit Trümmerschutt verfüllten Keller waren, merkten wir erst, als sie zu verwertbarem Boden wurden. Und immer wieder Blindgänger und in jedem Ferienlager als erstes die Belehrung über den Umgang mit Fundmunition.

Bei der Namensgebung gab es einen Hang zur diminutiven Verniedlichung: Annett, Antje, Anja, Ulli, Sascha, als wollten unsere Eltern, dass wir bis an unser Lebensende im Zustand eines unschuldigen Kindes verharren, das sie nie sein durften.

In allen Quellen heißt es, wir überfüllten die Schulen, Schwimmbäder und Universitäten und waren gezwungen, uns mit den Ellenbogen aus der Masse herauszuboxen. Obwohl ich mich persönlich an nichts davon erinnern kann – in der Klasse waren wir nie mehr als 20 und Schlange stand man, weil es eine Mangelwirtschaft war, keine Überflussgesellschaft. Das Durchboxen kam erst nach 1989, niemand hatte im wiedervereinigten Deutschland auf uns gewartet und die lukrativen Jobs in mittleren und höheren Positionen wurden auch im Osten mit im Westen Sozialisierten älterer Jahrgänge besetzt.

Der Jahrgang 1964 ist ost – und westdeutsch sozialisiert

Mit der Vorstellung einer Homogenität des Jahrgangs 1964 ist es schwierig, das ähnliche Denken, Fühlen, Wollen und Tun, das identitätsstiftend ist für einen großen Teil der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs, ist in diesem Jahrgang geteilt, die Geburtskohorte ist einander entfremdet, denn die aus dem Osten hatten den Westen nie gesehen vor 1989 und die aus dem Westen interessierten sich nicht sonderlich für die andere Seite, ihr Blick ging nach Frankreich, Italien oder Amerika. Beim Fall der Mauer war der Jahrgang schon erwachsen.

Das Wir des Jahres 1964 hat einen breiten Riss und splittrige Kanten. Es besteht aus Millionen Ichs, denn wir sind in Zeiten des sich herausbildenden Individualismus‘ herangewachsen. Immer schreit eine*r laut: So war es nicht. Aber bei allen Unterschieden gibt es das, was Karl Mannheim die generationsspezifische „Erlebnisschichtung“ genannt hat. Wir haben ähnliche oder gleiche Musik gehört, Filme gesehen, Bücher gelesen, trugen die meiste Zeit der Jugend Jeans oder wünschten uns die richtigen, liebten Kaugummi, Lollis und Stieleis, konnten in Ost und West (bis auf die, die kein Westfernsehen empfangen konnten oder es nicht sehen durften) die Fernsehreklame auswendig, trampten, waren als junge Erwachsene scharf auf einen Walkman und machten als Erwachsene jede Neuerung von Fax, Computer, Handys bis zu Social Media mit. Wir hatten Angst vor der Strahlung des havarierten Atomkraftwerkes in Tschernobyl und der Zerstörungskraft von Atombomben, Angst vor AIDS (im Osten weniger) und wir entdeckten, dass es mehr gab als romantische heteronormative Zweierbeziehungen. Wir waren locker, lässig, bunt oder ganz in Schwarz gekleidet, aber noch sehr weiß.

Last-Boomer Ost waren trotz allem glückliche Heranwachsende

Irgendwann zwischen 50 und 60, nach all den Auseinandersetzungen über Diktaturerfahrung und ihre Verstrickung darin, haben nicht wenige von uns End- oder Last-Boomern Ost erkannt, dass wir in Fragen der musischen Bildung glückliche Heranwachsende waren, denn in den 1980er Jahren hatten wir die Möglichkeit, alles mitzunehmen an dem Besten, was es gab auf der Welt an Filmen, Musik und Lektüre, ob es nun die sowjetischen Avantgardist*innen, das Bauhaus, Expressionismus oder Surrealismus, Kafka, französische Nouvelle Vague oder Poststrukturalismus, Punk oder Metal, James Baldwin oder Alexander Kluge, Frantz Fanon, Agnès Varda, Marta Mészáros oder Andrej Tarkowski waren. Lange verbotene Literatur wurde gedruckt und verbotene mit der Schreibmaschine abgeschrieben. Politisch verband uns 1964er Ost mehr mit den Litauer*innen, Pol*innen, Tschech*innen oder Est*innen unseres Jahrgangs, allesamt Untergebene eines Imperiums, von dem niemand sich vorstellen konnte, dass es schnell und relativ unblutig implodieren könnte.

Am Ende unserer Jugend haben wir Ost-Boomer*innen eine Diktatur überstanden, die Mauer eingerissen und uns Demokratie im Schnelldurchlauf selbst beigebracht.

Mit Nina Hagen vereint, in der Kinderfrage getrennt

Wir Frauen des Jahres 1964 konnten uns in Ost und West auf Nina Hagen, Patti Smith und Madonna einigen, kannten Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein oder Christa Wolfs Kassandra. Die Frauenbewegung Ost wurde von den Geburtskohorten der Mitfünfziger- bis Mitsechzigerjahrgänge geprägt, in der älteren Frauenbewegung West gaben Ältere den Ton an, die uns in ihrem Eifer, uns den richtigen Feminismus beizubringen, manchmal an unsere Hortnerinnen erinnerten, auch wenn sie nicht so aussahen. Die meisten Ostfrauen des Jahrgangs 1964 konnten allerdings mit Feminismus nichts anfangen, sie fühlten sich gleichberechtigt. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied – die Kinderfrage.

1989 waren Ostfrauen bei der Geburt des ersten Kindes im Schnitt 22,9 Jahre alt, in der Bundesrepublik 26,8. Denn wie sang Nina Hagen: „Vor dem ersten Kinderschreien, muss ich mich erstmal selbst befreien.“

Die Frauen des Jahrgangs 1964 West hatten also bei der Wiedervereinigung noch gar keine Kinder und die Frauen im Osten mehrheitlich eines, ein Drittel davon unehelich geboren (in der BRD nur zehn Prozent).

Im Westen blieben doppelt so viele Frauen des Jahrgangs kinderlos (22,2 Prozent, Ostfrauen 10 Prozent), während bei Frauen des Jahrgangs 1964 im Osten in die Zeit des oft schon geplanten zweiten Kindes die Wiedervereinigung fiel und mit ihr die Übernahme des bundesdeutschen Systems, das die „zu hohe Erwerbsneigung der Frauen aus der DDR“ gerne heruntergeschrumpft hätte. Was nicht gelang, die Frauen wollten in jedem Fall arbeiten, manche ließen sich deshalb sogar sterilisieren. Die Geburtenrate in Ostdeutschland fiel von 1,56 Kindern 1989 auf 0,77 1995, ein historischer Tiefstand. Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt und die Notwendigkeit der Neuorientierung, der Wegfall der familienpolitischen Maßnahmen der DDR und die Herablassung gegenüber arbeitenden Müttern führten dazu, dass die Ostfrauen des Jahrgangs 1964 erst lange nach dem ersten ein zweites oder drittes Kind bekamen. Bei 33,5 Prozent blieb es bei einem Kind. Während Westfrauen des Jahrgangs 1964, wenn sie sich später doch für Kinder entschieden, zwei bekamen und bis auf Ausnahmen in einer Ehe.
Viele der Ostfrauen sind längst Großmütter.

In diesem Jahr sind die 1964 Geborenen zehn Jahre länger zusammen als sie getrennt waren. Und doch haben sich Kindheit und Jugend als prägender erwiesen als 1990 gedacht.

Was erwarten wir von unserem restlichen Leben?

Bei der Lebenserwartung gibt es keine Unterschiede mehr. Aber was erwarten wir von unserem restlichen Leben, das nicht mehr 60, aber durchaus noch 30 Jahre dauern kann? Können wir uns beschränken in einer Welt, deren künftige Generationen auf Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit angewiesen sind, etwas weniger Platz einnehmen und weniger besserwisserisch auftreten? Werden wir Ärmeren uns um die Plätze im Altersheim prügeln oder uns rechtzeitig in Wartelisten eintragen müssen, wie heute werdende Eltern ihre Kinder in urbanen Ballungsräumen? Oder verlangen die Jüngeren von uns ein freiwilliges sozialverträgliches Ableben?

Eins aber ist sicher: Wir müssen von unseren bequemen Sofas aufstehen und mit aller Kraft, die wir haben, die Demokratie verteidigen, gegen jede Art von Autokratie oder Diktatur.


Quellen: