Was ist feministisch an Deutschlands Außen- und Entwicklungspolitik?

Editorial

Ein Jahr ist vergangen, seit die deutsche Bundresregierung Leitlinien für eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik vorgestellt hat. Für "FAIR SHARE of Women Leaders" bedeutete dies, insbesondere den deutschen Prozess der Umsetzung dieser feministischen Maßnahmen mitzugestalten. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Förderung feministischer globaler Zusammenarbeit.

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Die aktuelle feministische Außen- und Entwicklungspolitik Deutschlands sorgt für viele Fragezeichen. Die größte Frage, die sich in diesen Zeiten offenbart: Was ist feministisch an dieser Politik? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, habe ich mit sechs feministischen Akteur*innen gesprochen: Michelle Reddy und Amina Doherty (feministische Finanzierung) Gina Cortés Valderrama und Katy Wiese (Klimagerechtigkeit) und Hilina Berhanu Degefa und Barbara Mittelhammer (feministische Sicherheit). Sie haben ihre Ratschläge, aber auch konkrete Sorgen mit mir geteilt. In insgesamt drei Artikeln, zeigen sie, was es bedeutet, sich international für feministische Maßnahmen einzusetzen. Vor allem aber erinnert uns diese Artikelreihe daran, dass Staaten, die sich feministischen Prinzipien verschrieben haben, diese auch in ihre Handlungen einfließen lassen sollten.  

Feministisches Handeln benötigt ehrliche Gespräche

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel hat sich der feministische Diskurs in Deutschland verschoben. Dies geschieht im Lichte der politischen Antwort der deutschen Bundesregierung auf Israels militärische Operationen im Gazastreifen und dem Westjordanland, bei denen bereits Tausende Palästinenser*innen getötet wurden und die eine humanitäre Katastrophe ausgelöst haben. Die israelische Regierung griff auf diese massive Gewalt zurück, nachdem die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 hunderte Menschen in Israel getötet und entführt hat. Deutschlands aktuelle Staatsräson lädt uns zu einer ehrlichen Auseinandersetzung ein, ob und wie die deutsche Regierung unter diesen Umständen noch eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik implementieren kann.
Gleich zu Beginn, als das deutsche Außenministerium und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ihre feministischen Leitlinien ankündigten, stellten manche von uns BIPoC-Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen kritische Fragen. Wir forderten feministische Ansätze in der Politik bezüglich Kurdistan, Kaschmir oder dem Südsudan, um nur einige zu nennen. Doch viele von uns sind ungehört geblieben oder wurden sogar zum Schweigen angehalten. Die jetzige politische Situation ist jedoch noch alarmierender. In Vorgesprächen haben mir mehrere feministische Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen, die in Deutschland leben, erklärt, dass sie sich an dieser Artikelreihe nicht beteiligen können. Sie haben Angst um ihre Existenz und das Wohlergehen ihrer Familien, sollten sie sich kritisch gegenüber der deutschen Regierung äußern. Viele haben auch erwähnt, dass sie sich nicht ausreichend durch das deutsche Justizsystem beschützt fühlen oder Angst vor Kündigungen haben. Diese Realität passt nicht zusammen mit einem demokratischen Staat, der feministische Prinzipienbewirbt.

Feministisches Handeln bedeutet Verantwortung übernehmen

2023 veröffentlichten das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und das Auswärtige Amt (AA) ihre feministischen Leitlinien und Prinzipien. Beide Leitlinien umfassen ein breites Spektrum an feministischen Grundsätzen, Werten und Verpflichtungen. Eine dieser Verpflichtungen ist, Menschenrechte an erste Stelle zu setzen. Beispielsweise erklärt das BMZ in seinen Leitlinien der feministischen Entwicklungspolitik, dass ein menschenrechtsbasierter Ansatz die Grundlage für diese feministische Entwicklungspolitik bilde.

Das Ministerium betont, dass es die Aufgabe des Staates sei, die Rechte aller Menschen zu achten und zu gewähren. Somit verpflichtet sich das Ministerium, Menschenrechte in den Mittelpunkt aller politischen Maßnahmen und Programme zu stellen.
„Staaten stehen als Pflichtentragende in der Verantwortung, ihren menschenrechtlichen Pflichten nachzukommen.“ (Feministische Leitlinien des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2023, S.15)

Das angestrebte Engagement Deutschlands, feministische Prinzipien zu praktizieren, birgt das Potenzial für einen transformativen Wandel in der Politik. Aus diesem Grund befasst sich diese Artikelserie mit Herausforderungen und Chancen seit der Einführung der feministischen Leitlinien durch die beiden Bundesministerien. Sie sollen helfen, besser zu verstehen, was ein „feministischer Reflex“ in diesem Zusammenhang bedeuten könnte. In Hinblick auf Deutschlands Versprechen für feministische Finanzierungsstrukturen sind beispielsweise konkrete Maßnahmen noch nicht erkennbar (siehe Gespräch mit Aminata Doherty, Co-Gründerin des Black Feminist Fund und Michelle Reddy, Co-Geschäftsführerin des Pacific Feminist Fund).

Das BMZ positioniert sich sogar in seinen feministischen Leitlinien so, dass es die eigene Rolle in einer geopolitischen Machstruktur reflektiere und den Begriff der „Entwicklungspolitik“ hinterfrage. Nichtdestotrotz priorisieren zum Beispiel Gesetze und Maßnahmen für erneuerbare Energien immer noch ökonomische Ausbeutung anstatt die Einhaltung von Menschenrechten (siehe Gespräch mit Gina Cortés Valderrama und Katy Wiese).
Ein weiterer Grund für die Probleme der deutschen feministischen Außen- und Entwicklungspolitik ist das Fehlen einer allumfassenden feministischen Politik für die gesamte Bundesregierung. Obwohl die feministischen Leitlinien des AAs und des BMZs einen großen Fortschritt darstellen, kann eine feministische Vision nur mit der Verpflichtung anderer Ministerien, wie des Bundesministeriums für Gesundheit oder des Finanzministeriums letztendlich realisiert werden (siehe Gespräch mit Barbara Mittelhammer, Politische Analytikerin und Hilina Berhanu Degefa, feministische Aktivistin und Wissenschaftlerin). Diese wenigen Beispiele zeigen bereits auf, dass die Umsetzung feministischer Politik keine leichte Aufgabe ist. Trotzdem sind sich alle Interviewpartner*innen einig, dass feministische Politik große Potenziale birgt, und notwendig ist, um gerechtere Gesellschaften zu gestalten.

Feministisches Handeln beginnt bei dir selbst

Trotz aller Widerstände setzen sich Feminist*innen tagtäglich für feministische Politik ein. Diese Arbeit kann überfordernd sein,die Kämpfe sind sehr komplex. Aus diesem Anlass greift diese Artikelserie auch praktische Tipps auf, wie feministische Werte im Alltag praktiziert werden können. Beispielsweise geht es darum, wie Intersektionalität praktisch angewendet, oder auch wie der immense Arbeitsaufwand solidarisch aufgeteilt werden kann. Auch gehen die Artikel darauf ein, wie die Zivilgesellschaft und staatliche Institutionen besser zusammenarbeiten können. Jede einzelne Person kann dazu beitragen, feministische Politik Realität werden zu lassen. Dazu gehört auch, feministische Werte und Prinzipien in unseren eigenen Organisationen zu praktizieren.
So betont Michelle Reddy vom Pacific Feminist Fund, wie wichtig mentale Gesundheit auch im organisatorischen Kontext ist, da viele feministische Akteur*innen oft unter Burn-Out leiden. Michelles Team nimmt sich beispielsweise zweimal pro Jahr jeweils eine Woche Urlaub, der nicht Teil des jährlichen Urlaubs ist. Dieser Ansatz wird als feministische Praxis verstanden, um das Wohlbefinden der Angestellten sicherzustellen. So kann das Team sich erholen und Energie tanken.

Hilina Berhanu Degefa von XY nennt ein weiteres Beispiel: Sie betont, dass es Teil der persönlichen feministischen Entwicklung sein sollte, neugierig zu bleiben, Fragen zu stellen und offen dafür zu sein, neue Perspektiven kennenzulernen. Hilina Berhanu Degefas Ratschlag stellt somit den roten Faden dieser Artikelserie dar: „Wir alle sollten offen dafür sein, voneinander zu lernen, um ein besseres Verständnis füreinander zu bekommen.“ Auf dem Weg zu einer feministischen globalen Zusammenarbeit ist dieser Ratschlag notwendiger denn je. 

Diese Artikelreihe ist in Kooperation mit FAIR SHARE of Women Leaders entstanden.