Brasilien: Der lange Schatten der Militärdiktatur

Hintergrund

Zum 60. Jahrestag des Militärputsches (1964-1985) bleibt die Aufarbeitung eine gesellschaftliche Aufgabe.

Protest: Diktatur nie wieder

Die längste Militärdiktatur Lateinamerikas

Brasilien wurde 21 Jahre (1964-1985) von einer Militärdiktatur regiert und ist damit das Land in Lateinamerika mit der längsten Militärdiktatur. 1889 wurde die bis 1946 sogenannte Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien bereits durch einen Militärputsch gegründet. Verschiedene Präsidenten regierten das neue, unabhängige Brasilien gut vierzig Jahre recht stabil, das System schloss aber Teile der Bevölkerung aus und Wahlen wurden häufig manipuliert. 1930 kam Getúlio Vargas an die Macht, als gerade die Kaffeepreise einbrachen. Die folgende Wirtschaftskrise versuchte der Präsident auch mit neuen Partizipationsmechanismen für die Bevölkerung zu bewältigen. Vargas brachte damit jedoch die protestierenden Eliten gegen sich auf, die gegen diese demokratische Entwicklung waren. Schließlich wurde 1937 das Militär als institutioneller Moderator („poder moderador“) zur friedlichen Beilegung der Konflikte zwischen Parteien und Eliten eingesetzt, allerdings ohne Erfolg. 1945 wurde Vargas vom Militär gestürzt, durfte aber 1951 erneut kandidieren und wurde wiedergewählt. Der nächste wieder stabil regierende Präsident João Goulart (ab 1961) betrachtete das Militär als wichtigen und zuverlässigen Akteur zur Lenkung und Lösung von Konflikten. Fortan wurde die Zustimmung des Militärs für bestimmte politische Entscheidungen hinzugezogen. Die erste Protestbewegung von Bürger*innen richtete sich gegen die Erhöhung des Soldes der Militärs und führte zu ersten Gewerkschaftsgründungen. Präsident Goulart hatte mit hohen Inflationsraten und polarisierten linken und rechten Strömungen zu kämpfen. Diese waren mit seinen sozialen Umverteilungsplänen nicht einverstanden. Die Konservativen lehnten eine geplante Bodenreform im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco ab und fürchteten die Entstehung von Gewerkschaften mit kommunistischen Tendenzen. Das Militär putschte am 31. 3. 1964 gegen den amtierenden Präsidenten João Goulart und setzte eine Militärregierung ein.

Das Militär fürchtete den ökonomischen Zusammenbruch und kommunistische Infiltration. Zur Bekämpfung letzterer wurden in den folgenden Jahren 17 sogenannte „institutioneller Akte“ erlassen, die zur Entlassung von 10.000 unliebsamen Beamt*innen und zur Einschränkung der Rechte von 378 Personen, darunter die ehemaligen Präsidenten führten. Zudem wurde durch weitere institutionelle Akte die Anzahl der Richter im Bundesgericht zugunsten der Plätze für das Militär erhöht. Es wurde nur noch eine Oppositionspartei (Movimento Democrático Brasileiro) zugelassen. Zur Koordination von Repressionsmaßnahmen wurde eine gesonderte Behörde geschaffen (Serviço de Segurança Nacional).

Verfolgung des Widerstandes und Straffreiheit für die Täter im Amnestiegesetz (1979)

Der Widerstand gegen die Militärdiktatur kam zunächst überwiegend aus den elitären Bevölkerungsschichten, insbesondere von Anhänger*innen der katholischen Kirche. Auch Studierende organisierten Proteste. In der Oppositionspartei Movimento Democrático Brasileiro (MDB) sammelten sich ab 1968 Arbeiter*innen. Mithilfe der ehemaligen Präsidenten Kubitschek und Goulart und der zukünftigen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff machten sie mit Streiks auf sich aufmerksam. Auch Brasiliens Intellektuelle und Künstler*innen nutzten ihre Werke als Auflehnung gegen die Militärdiktatur. Es gab etwa fünfzig Dissident*innen Organisationen im Untergrund. Viele der am Widerstand Beteiligten wurden Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens, inhaftiert und gefoltert.  Die Bilanz der Militärdiktatur ist schrecklich: bis heute bleiben noch immer „Verschwundene“ spurlos verschwunden. 10.000 Brasilianer*innen sind ins Exil gegangen, 7.367 Menschen wurden angeklagt, 10.034 waren ohne Anklage während der Militärdiktatur inhaftiert, 4.862 Brasilianer*innen sind ihre politischen Mandate und ihrer damit verbundenen Rechte entzogen worden und mindestens 245 Studierende wurden der Universität verwiesen. Erst 1995 erkannte der damalige Präsident Fernando Henrique Cardoso erstmals den Tod von 136 Menschen während der Zeit der Militärdiktatur an.  

Im Zuge der Regierungszeit von Emílio Garrastazú Médici (1969-1974) begannen die moderaten Teile des Militärs einen demokratischen Öffnungsprozess einzufordern. Mit mindestens 170 verschwundenen Oppositionellen wird diese Regierungszeit auch als „Ära der Verschwundenen“ bezeichnet. Der Apparat der Militärdiktatur sah sich mit einem unaufhörlich wachsenden zivilgesellschaftlichen Widerstand und internationalen Druck konfrontiert. Im Öffnungsprozess (1974-1985) unter den Präsidenten Ernesto Geisel (1974-1979) und João Figueiredo (1979-1985) am Ende der Militärdiktatur, pochten die Militärs auf ihre bleibende Autonomie. Man wollte sich weiterhin nicht dem Staat unterordnen, sondern neben ihm stehen. Mit dem Amnestiegesetz von 1979, das die Militärregierung mit der Oppositionspartei (MDB) und Vertretern der sogenannten harten Linie innerhalb des Militärs verabschiedete, erhielten alle Agenten aus den Repressionsstrukturen eine umfassende Amnestie. Die politischen Gefangenen hingegen, die am aktiven bewaffneten Kampf beteiligt waren oder deren Mordanschläge gescheitert waren, erhielten keine Straffreiheit. Die Aktionen des Widerstands wurden als Straftaten im Amnestiegesetz angeführt, die Straftaten der Militärangehörigen hingegen lediglich als „politische oder damit verbundene“ Taten eingeordnet. Die Straftat Folter wurde damit vertuscht. Das Amnestiegesetz von 1979 prägte den gesamten späteren Aufarbeitungsprozess der brasilianischen Militärdiktatur.

Der lange Weg zur Aufarbeitung der Militärdiktatur

Obwohl 1990 erstmals Staatsarchive auf Druck ehemaliger politischer Gefangener und den Familien der Verschwundenen geöffnet wurden, widmete sich der brasilianische Staat erst ab 1995 in insgesamt drei Kommissionen der Aufarbeitung der Militärdiktatur. Die staatliche Spezialkommission bezugnehmend auf die aus politischen Gründen Ermordeten und gewaltsam Verschwundenen (Comissão Especial sobre Mortos e Desaparecidos Políticos) wurde 1995 errichtet, bestand bis 2007 und hatte drei Aufgaben: formal jeden Fall politisch Verschwundener oder zu Tode gekommener Personen anzuerkennen, Entschädigungsleistungen zu genehmigen und die sterblichen Überreste zu suchen. Die Kommission hatte nicht die Befugnis, die Todesursache zu untersuchen. Erst nach neun Jahren Kommissionsarbeit wurden auch Fälle aufgenommen, in denen der Tod wahrscheinlich bei der Niederschlagung von Demonstrationen, bei Kämpfen mit der Staatsgewalt oder durch Folter verursacht wurde. 1997 war durch den damaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2003) zwar ein Anti-Folter-Gesetz verabschiedet worden, es gab aber nie Verurteilungen aufgrund von Folter. Vielfach wurde an dieser Kommission kritisiert, dass die Bereitstellung der Beweislast bei der Zivilgesellschaft lag und die gezahlten Entschädigungsleistungen gestaffelt nach akademischem Grad der Opfer berechnet wurden. Akademiker*innen sollten mehr Entschädigungszahlungen erhalten als Nicht-Akademiker*innen trotz gleichem Leid durch beispielsweise Folter. Was hat die Kommission erreicht? Im Abschlussbericht wird betont, dass der Präsident Fernando Henrique Cardoso, selber Exilierter zu Zeiten der Militärdiktatur, die Informationsweitergabe an die Presse mit Beiträgen auch von Angehörigen Verschwundener ermöglichte. Der Bericht würdigt auch die Arbeit des zivilgesellschaftlichen Projekts „Brasilien: Nie wieder!“, das u.a. mit der Veröffentlichung von Listen von Tätern im Jahr 2001 die Untersuchung von 23 Fällen von Folter im brasilianischen Militär durch den UN Ausschuss für Folter erwirkte. Die fundamentale Kritik an der Kommission war ihr begrenztes Mandat, das Ermittlungen zur Todesursache und den Tätern ausschloss.

Im Jahr 2002 wurde die Amnestiekommission (Comissão de Anistia) des brasilianischen Justizministeriums eingesetzt.  Sie sollte den Opfern Reparationen anbieten, die von den sogenannten institutionellen Akten (Folter, unrechtmäßigen Inhaftierungen, Entführungen, Vertreibungen und Entlassungen) betroffen waren. Dieses Reparationsprogramm beschränkte sich nicht nur auf finanzielle Reparationen, sondern bezog auch die Zeit im Exil oder im Gefängnis mit ein. Die Ausbildung in öffentlichen Schulen durfte zudem wiederaufgenommen werden und ausländische Universitätsabschlüsse wurden anerkannt. Laut Justizministerium wurden rund 30.000 Brasilianer*innen finanzielle und dienstliche Wiedergutmachung angeboten. Der Abschlussbericht der späteren Wahrheitskommission präzisiert, dass von 62.000 Anträgen nur 35.000 angenommen wurden.

Luiz Inácio Lula da Silva, der Brasilien bereits von 2002 bis 2010 regierte, brachte 2010 erstmals einen Gesetzesvorschlag zu Errichtung einer Wahrheitskommission ein. Unter dem Druck von Militär und seinem Verteidigungsminister verwässerte er aber einen maßgeblichen Paragraphen. In diesem hieß es ursprünglich: „im Kontext von politischer Repression“. Dieser wurde schließlich zu „in einem Kontext des politischen Konflikts“ umformuliert. Die folgende Präsidentin Dilma Rousseff (2011-2016) errichtete 2012 die nationale Wahrheitskommission (Comissão Nacional da Verdade), mit der Zielsetzung, das Geschehene zwar historisch, aber nicht juristisch aufzuarbeiten. Die eingesetzten Kommissar*innen waren uneinig, ob zivilgesellschaftliche Akteur*innen aktiv in die Arbeit der Wahrheitskommission eingebunden werden sollten, so dass ein Großteil der Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten wurde. Der Bericht der nationalen Wahrheitskommission ist rund 400 Seiten lang und veröffentlicht u.a. erstmals Zeug*innenaussagen. Er nennt explizit die Namen von rund 377 Staatsbeamten, die verantwortlich für die Planung und Implementierung repressiver Strukturen waren. Die Wahrheitskommission spricht von einer „systematischen Begehung von Menschenrechtsverletzungen“ und forderte erstmals in der brasilianischen Geschichte als staatliche Institution die strafrechtliche Verfolgung der Täter. Sie gibt insgesamt 29 Empfehlungen ab, unter anderem zur Zahlung von Entschädigungsleistungen der Täter an die Opfer. Kritik an dem Bericht sind unvollständige oder ganz ausgebliebende Untersuchungen von einigen Verbrechen durch die Wahrheitskommission. So wurden 434 Verbrechen an indigenen und bäuerlichen Bevölkerungsgruppen nicht aufgegriffen. Aus Protest gegenüber der vielfach als intransparent empfundenen nationalen Wahrheitskommission entstanden in ganz Brasilien auf bundesstaatlicher und institutioneller Ebene lokale Wahrheitskommissionen (mehr dazu gibt es hier und hier).  Die nationale Wahrheitskommission schloss mit 18 dieser lokalen Wahrheitskommissionen Kooperationsverträge.

Die juristische Aufarbeitung, die von den Opfern und ihren Angehörigen immer schon gefordert wird, ist vom brasilianischen Staat bis heute nicht angenommen worden. Sogar die Präsidentin Dilma Rousseff, selbst Folteropfer der Militärdiktatur, befürwortet Strafffreiheit der Täter und ist gegen die Empfehlung der Wahrheitskommission. Für Rousseff ist das ein Akt der Versöhnung, entsprechend dem Narrativ des 1979 erlassenen Amnestiegesetzes. Versöhnung ist erwünscht, Strafverfolgung nicht.

Zum Vergleich:  In der Aufarbeitung der Militärdiktaturen in Chile und Argentinien gab es mehrere Gerichtsverfahren gegen Militärs mit dem Ergebnis langer Haftstrafen.

Brasilien – Nie wieder!

Schon in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gründeten sich in mehreren brasilianischen Städten sogenannte Amnestie-Komitees. Sie forderten Amnestien für politisch Inhaftierte und Exilierte. Gleichzeitig lehnten sie eine Amnestie für Folter ab. 1976 gründete sich die pastorale Erzbischofskommission für Menschenrechte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Im Rahmen dieser Kommission agierte die Gruppe Clamor unter dem Anwalt Luiz Eduardo Greenhalgh, dem Journalisten Jaime Wright und dem Geistlichen Dom Paulo Evaristo. Sie sammelten im Verborgenen Kopien der Fälle, die vor dem Militärgericht mit der Anklage der Staatsgefährdung verhandelt wurden. Greenhalgh sowie anderen Anwälten wurde aufgrund ihrer Funktion als „Verteidiger von potentiell Begünstigten der Amnestieregelung“ Zugriff zu militärgerichtlichen Archiven gewährt. Diese wurden kopiert und ins Ausland geschmuggelt. Mit Unterstützung von Kirchenvertretern entstand das Buch „Brasilien: Nie wieder!“. Wenige Monate nach dem Ende der Militärdiktatur wurde es der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Darüber hinaus ließ die 1985 gegründete Grupo Tortura Nunca Mais als erste Organisation, die Leichen gerichtsmedizinisch untersuchen und die überlebenden Opfer psychologisch betreuen. Aktive waren ehemalige politische Gefangenen, Überlebende sowie Angehörige von Verschwundenen und Ermordeten, die sich zusammen für die Be- und Umbenennung von Straßen, Plätzen und Schulen einsetzten.

Die Grupo Tortura Nunca Mais reichte 1995 zusammen mit dem Centro pela Justiça e o Direito Internacional (internationales Zentrum für Gerechtigkeit und internationales Recht) und der Kommission der Angehörigen von politischen Verschwundenen und Ermordeten São Paulo beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage gegen den brasilianischen Staat ein. Es handelt sich hierbei um den als Gomes Lund et al. bekannt gewordenen Fall, der das Verschwinden von 70 zwischen 1972 und 1974 im Widerstand aktiven Personen in der Region des Flusses Araguaia (in den Bundesstaaten Pará, Goiás und Maranhão) untersuchte. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte forderte den brasilianischen Staat in seiner Urteilsverkündung dazu auf, alle hierarchischen Ebenen des Militärs über die Prinzipien und Normen des Menschenrechtsschutzes aufzuklären. Ferner stellte der Gerichtshof fest, dass das brasilianische Amnestiegesetz die Ermittlungen und Bestrafung schwerer Menschenrechtsverletzungen behindert hatte und unvereinbar mit der American Convention on Human Rights ist.  Zudem wurde der brasilianische Staat aufgefordert, aktiv die Suche nach den Vermissten fortzusetzen.

Formen der Aufarbeitung: von Gedenkorten bis zu Fernsehserien

Ein weiteres Beispiel des zivilgesellschaftlichen Engagements zeigt sich in der Umwandlung ehemaliger Gefängnisse in Kulturstätten, maßgeblich angetrieben durch das Netzwerk Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, das rund 20 zivilgesellschaftliche Organisationen aus Rio de Janeiro vereint, darunter die brasilianische Anwaltskammer. Ehemalige Inhaftierte, gefolterte und exilierte Personen veröffentlichten ihre Autobiographien. Auch Fernsehserien, die Telenovelas, beschäftigen sich mit der Militärdiktatur, so z.B. Roda de Fogo (1986-1987). Das war die erste Fernsehserie die politische Gefangenschaft und Folter thematisierte und damit auch die mangelnde Vergangenheitsaufarbeitung der Regierung. Die Telenovela Anos Rebeldes (1992) erzählt eine Liebesgeschichte zurzeit wichtiger Ereignisse während der Militärdiktatur, wie beispielsweise den Studierendenprotesten im Jahre 1968. Sie wurde von mehr Menschen gesehen als der Bericht der Wahrheitskommission gelesen wurde. Die Ausstrahlung der Telenovela Explode coração (1995) mit ihrer Kampagne zur Unterstützung von Eltern führte zur Auffindung von fünfundsiebzig während der Militärdiktatur verschwundener Kinder. Die Telenovelas verharmlosen teilweise die Repression und oft werden Militärangehörige als Vaterfiguren verherrlicht und Folter ausgeblendet.

Verherrlichung der Diktatur durch vier Jahre Bolsonaro

Der von 2018-2022 regierende brasilianische Präsident Jair Messias Bolsonaro spricht sich offen für Folter aus und verherrlicht die Militärdiktatur. Bolsonaro war selbst Fallschirmjäger. Die 21 Jahre Militärdiktatur glorifiziert und erinnert er nostalgisch als Zeit, in der „endlich mal Ordnung im Land herrschte“. Seit Ende der Militärdiktatur gab es keine Präsidentschaft, die so viele Militär-Angehörige auf zivile Posten setzte wie Bolsonaro. Der Erwerb von Schusswaffen wurde während seiner Amtszeit erheblich erleichtert. Die Polizeigewalt ist in den Favelas erschreckend angestiegen.

Der frühere Armeechef der brasilianischen Streitkräfte, Marco Antônio Freire Gomes, bestätigte im Rahmen der Ermittlungen über die möglichen Putschpläne ein Treffen zwischen hochrangigen Militärs und Bolsonaro nach der verlorenen Präsidentschaftswahl im Herbst 2022. Ein geheimes Dokument sollte das Einschreiten des Militärs rechtfertigen. Gewalttätige Anhänger*innen von Bolsonaro griffen am 8. Januar 2023, wenige Tage nach der Amtsübernahme von Lula, in Brasilia Regierungsgebäude und damit die Gewaltenteilung und das Herz der brasilianischen Demokratie an. Unmittelbar nach dem Angriff tauschte Luiz Inácio Lula da Silva als neuer Präsident von Brasilien den Kommandanten der Streitkräfte, Júlio César de Arruda, aus. Lula erklärte zuvor, dass viele Angehörige des Militärs an diesem Angriff auf die Demokratie beteiligt waren. 189 Angehörige der Streitkräfte wurden von ihren Ämtern in der Bundesregierung entlassen (Stand April 2023). Bolsonaro steht im April 2024 aufgrund der sich verdichtenden Informationen über die Putschpläne nach seiner Abwahl extrem unter Druck. Dem Ex-Präsidenten ist sein Reisepass entzogen worden und es ist ihm untersagt, Brasilien zu verlassen. Kürzlich wurde bekannt, dass er drei Tage in der ungarischen Botschaft verbrachte – es ist unklar, was er dort genau gemacht hat. Da Bolsonaros Verhaftung im Zuge der sich immer größer ziehenden Kreise der Ermittlungen möglicherweise unmittelbar bevorsteht, ruft er nun zu Großdemonstrationen seiner Unterstützer*innen auf. Bereits am 25. Februar gingen 185.000 seiner Anhänger*innen in São Paulo auf die Straße.

Am 31. März 2024 jährte sich der Militärputsch in Brasilien zum 60. Mal. Der amtierende Präsident Lula stoppte im März 2024 das vom Justizministerium zum Jahrestag angekündigte Museum der Erinnerung und Menschenrechte. Für ihn ist der Militärputsch Vergangenheit. Er wolle nach vorne schauen und verbietet seinen Minister*innen die Durchführung öffentlicher Gedenkveranstaltungen. Diese Faktoren haben im Hinblick auf die Aufarbeitung ein besonderes Gewicht. Lula sorgt sich um das Verhältnis zum Militär und möchte weitere Provokationen, auch bei den weiteren Ermittlungen gegen Bolsonaro, vermeiden.

Es bleibt wieder einmal der brasilianischen Zivilgesellschaft, ihre Stimmen gegen das Vergessen der Militärdiktatur zu erheben. In Zeiten von Desinformation und immer besser vernetzten rechtsradikalen Parteien und Bewegungen sowie einer Nostalgie für eine Ordnung durch Militärs ist dies wichtiger denn je.