Eurovision Song Contest: Ein Medienphänomen geht um die Welt?

Analyse

Einen Abend lang verfolgt ein Weltpublikum die mit aufwändigsten Mitteln inszenierte Show auf dem Höhepunkt des technisch Machbaren. Was macht den Eurovision Song Contest zu einem der faszinierendsten Medienereignisse unserer Zeit?

Die Sängerin Loreen kniet auf einem roten Plateau auf einer in Gold ausgeleichteten Bühne

Der Eurovision Song Contest (ESC) zählt zweifellos zu den faszinierendsten Medienereignissen unserer Zeit. Jahr für Jahr schauen mehrere Hundert Millionen Menschen auf der ganzen Welt die Veranstaltung am heimischen Fernsehgerät, Computerbildschirm, Smartphone oder bei einem der zahlreichen Public Viewings, die von Kneipen, Fanclubs oder anderen privaten Organisationen angeboten werden. Einen Abend lang verfolgen Zuschauerinnen und Zuschauer eine mit aufwändigsten Mitteln inszenierte Show auf dem Höhepunkt des technisch machbaren. Einen Abend lang reduzieren sich die politischen Mechanismen der westlichen Welt darauf, welches Land welchem anderen Land seine 12 Punkte gibt. Einen Abend lang feiern Menschen auf friedliche Weise kulturelle Vielfalt, Diversität und Toleranz – wie es schon die Erfinder des Wettbewerbs im Sinn hatten.

Völkerverbindender Gründungsmythos

Jenseits des völkerverbindenden Gründungsmythos des ESC, den die Europäische Rundfunkunion (EBU) seit knapp 20 Jahren wie eine Monstranz vor sich herträgt, war und ist der größte Musikwettbewerb der Welt in erster Linie eine Plattform zur internationalen Fernsehzusammenarbeit. Das war er auch schon 1956, als er zum ersten Mal in die Wohnstuben der wenigen Auserwählten flimmerte, die sich zu den glücklichen Besitzer*innen eines Fernsehapparats zählen durften. Gerade einmal 4 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung hatten damals Zugang zu einem Fernsehapparat – oft genug durch den Besuch bei finanzkräftigen Angehörigen oder Nachbar*innen, zuweilen auch nur durch stundenlanges Stehen vor den Schaufenstern der Rundfunkgeräteanbieter.

Vorbild Sanremo

Um das junge Medium Fernsehen für die breite Bevölkerung attraktiv zu machen und die Verbreitung der damals noch recht teuren Empfangsgeräte anzukurbeln, hatten sich Großereignisse wie die Krönung von Queen Elizabeth II. 1953 als ideale Zugpferde erwiesen. Als die EBU 1955 eine Arbeitsgruppe ins Leben rief, um ein solches regelmäßiges Großereignis aus der Taufe zu heben, bot sich die Idee eines Musikwettbewerbs nach dem Vorbild des bereits seit 1951 in Italien existierenden Sanremo-Festivals an.

Der Musikwettbewerb sollte das junge Medium Fernsehen für die breite Bevölkerung attraktiv  machen.

Andere Optionen, wie ein Zirkuswettbewerb oder ein Städtewettstreit für Unterhaltungskünstler*innen, wurden rasch verworfen – womöglich, weil die Reichweite eines TV-Musikwettbewerbs auch im Radio gewährleistet war: Den ersten Eurovision Song Contest am 24. Mai 1956 verfolgten deutlich mehr Menschen am heimischen Rundfunkempfänger als an den Bildschirmen.

Musikwettbewerb mit geringer musikwirtschaftlicher Relevanz

Das Verhältnis sollte sich schon bald umkehren, und das Fernsehen als Unterhaltungsmedium trat in den Folgejahren einen beispiellosen Siegeszug durch die europäischen Wohnstuben an. Zehn Jahre nach dem ESC-Debüt verfügten in der Bundesrepublik schon gut zwei Drittel aller Haushalte über ein Fernsehgerät. Mittlerweile sorgte ein Wettbewerbssieg auch mehr oder weniger zuverlässig für internationale Verkaufserfolge. Doch obwohl sich der ESC in seinem Reglement „die Förderung von Originalchansons in den Ländern der Teilnehmer durch Konkurrenz zwischen Autoren und Komponisten mittels eines internationalen Vergleichs ihrer Werke“ auf die Fahnen geschrieben hatte, blieb seine musikwirtschaftliche Relevanz vergleichsweise gering, denn die nationalen Musikmärkte operierten aufgrund von Sprach- und Kulturbarrieren noch relativ isoliert voneinander.

„Fenster zur Welt“

Nachdem das Fernsehgerät aus den europäischen Wohnzimmern nicht mehr wegzudenken war, behielt der Eurovision Song Contest seine Sonderstellung im Bewusstsein der Zuschauerinnen und Zuschauer, verhieß das Erklingen der Eurovisionshymne doch ein Programm, das mit dem üblichen Fernsehalltag brach. Zudem erfreuten sich im Zuge der europäischen Einigung ab Mitte der 1960er Jahre Sendungen mit Europabezug wie „Spiel ohne Grenzen“ oder im deutschsprachigen Raum die Quizshow „Einer wird gewinnen“ großer Beliebtheit, weil sie die Neugier des Publikums auf andere, ihnen vielleicht unbekannte Teile Europas weckten. Auch der Eurovision Song Contest erfüllte damals die Funktion eines „Fensters zur Welt“.

Ritualisierte Rezeption

Seine Sonderstellung im Programmalltag hat der ESC allerdings nicht zuletzt seiner Sendezeit zu verdanken, die als Kompromiss zwischen den teilnehmenden Rundfunkanstalten den gängigen Programmschemata vieler Länder bis heute zuwiderläuft. So lag der Beginn des Wettbewerbs fast überall in Europa später als der Beginn der eigentlichen Prime Time, sodass das Ende der Show mit wachsender Teilnehmendenzahl immer näher an Mitternacht rückte, was dem Fernseherlebnis eine ähnliche Anmutung wie die Unterhaltungsprogramme zum Jahreswechsel verlieh und insbesondere von Kindern, die die Übertragung mitverfolgen durften, mit ähnlicher Aufregung empfunden wurde. Damit erhielt das Fernsehereignis für viele Zuschauerinnen und Zuschauer einen feiertagsähnlichen Platz im Jahreskreis, den keine andere Sendung über die Jahre mit vergleichbarer Zuverlässigkeit zu füllen vermochte.

Strenge Standardisierung

Doch auch die Programmgestalter*innen leisteten ihren Beitrag, um das jährliche TV-Ereignis zu einem Fernsehritual werden zu lassen. Schon in den Anfangsjahren des Wettbewerbs wurden auf Anregung der BBC nicht mehr die Lieder bepunktet, sondern die Länder, aus denen sie stammten, was den Wettbewerbscharakter der Veranstaltung stärker unterstrich. Der Ablauf der Sendung war streng standardisiert und blieb über die Jahre fast unverändert. Mit der Einführung von Einspielfilmchen zu den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern („Postcards“) im Jahr 1970 und des bis heute gültigen 12-Punkte-Wertungssystems im Jahr 1975 wurden zwei weitere wichtige Bausteine geschaffen, die einer ritualisierten Rezeption der Show Vorschub leisteten.

Notwendiges Übel

2004 wurden die im Laufe der Jahre standardisierten Elemente („Could I have your votes, please?“) gezielt um weitere Catch Phrases wie „Let the Eurovision Song Contest begin“ und „Europe, start voting now!“ erweitert, um den rituellen Charakter der Show noch stärker zu betonen. Da hatte die EBU mittlerweile erkannt, dass sie über fast 50 Jahre ein Format aufgebaut hatte, das es zu bewahren galt. Zuvor war nämlich immer wieder der Ruf laut geworden, das TV-Spektakel angesichts sinkender Zuschauerzahlen abzusetzen. Noch 1995 erklärte der damalige Executive Supervisor des ESC, Christian Claussen:

“The ESC is for EBU and most of the persons in charge of it a kind of necessary evil. Nobody really knows where to put it. They would like to suppress it but they can’t.”

Synonym für Arbeit der Eurovision

Tatsächlich war der Eurovision Song Contest über die Jahre so sehr zum Synonym für die Arbeit der Eurovision geworden – also des Fernsehprogrammaustauschs der EBU –, dass man offenbar fürchtete, mit dem Wettbewerb verschwände der Begriff „Eurovision“ komplett aus der öffentlichen Wahrnehmung. Wenn man sich der Sendung also nicht entledigen konnte, musste man sie für das neue Jahrtausend fit machen. Den Vorstoß dafür unternahm der damalige Unterhaltungschef des NDR, Jürgen Meier-Beer, nachdem er die Verantwortung für den nationalen Vorentscheid und damit die deutsche Teilnahme am internationalen ESC übernommen hatte. Schon bald scharte er gleichgesinnte Programmverantwortliche in anderen Ländern um sich und krempelte den Wettbewerb mit einer bis dato beispiellosen Radikalität um.

Schon immer war der ESC weniger der Musik als dem Fernsehen verpflichtet.

„World-class live television production“

Neben der Abschaffung des Liveorchesters und der Pflicht zum Singen in Landessprache sowie der Einführung der Publikumsabstimmung wurde 2004 das Feigenblatt der Musikförderung ein für alle Mal abgelegt und der entsprechende Passus ersatzlos aus dem Reglement gestrichen. Seither verfügt der Wettbewerb offiziell über gar kein Ziel mehr, nur über das Selbstverständnis als „state-of-the-art, prime-time entertainment programme, world-class live television production“, womit er dem ursprünglichen Anlass seiner Entstehung tatsächlich ein Stück nähergekommen ist. Schon immer war der ESC weniger der Musik als dem Fernsehen verpflichtet, und selbst wenn einige Schöngeister in den Programmetagen der Rundfunkanstalten davon träumten, anspruchsvolles Liedgut in den Wettbewerb zu entsenden, standen doch stets andere als kulturelle Aspekte im Vordergrund der Veranstaltung.

Aushängeschild für technisches Know-how

Zum einen sollte mit der Show (und das gilt natürlich insbesondere seit der Einführung des Privatfernsehens) die Vormachtstellung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und die Schlagkraft seines internationalen Kooperationsnetzes unter Beweis gestellt werden. Angesichts der Tatsache, dass die Eurovision für den Nachrichtenaustausch zuständig ist und mit privaten Anbietern beispielsweise um die Übertragungsrechte für internationale Sportveranstaltungen konkurrieren muss, spielt der ESC bis heute eine wichtige Rolle als Aushängeschild für das vorhandene technische Know-how in der EBU. Zum anderen dient er dazu, die in vielen Ländern existierende Sonderstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu unterstreichen, indem er wesentliche Prinzipien der „Public Service Media“ wie Universalität, Vielfalt, Innovation, aber auch die Förderung von Zugehörigkeit und nationaler Identität transportiert.

Showtechnische Beflügelung durch Osterweiterung

Zugehörigkeit und nationale Identität sollten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs für den ESC eine noch größere Bedeutung gewinnen, als ihm als Länderwettstreit ohnehin schon in die Wiege gelegt worden war. Nicht nur, dass die Nachfolgestaaten Jugoslawiens ihren Platz in der Eurovisionsfamilie beanspruchten, auch die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten sowie die Nachfolgestaaten der untergegangenen Sowjetunion klopften an die Tür der EBU, die ihre Mitgliederbasis nur allzu gerne erweiterte. Der Ehrgeiz, den viele dieser neuen Teilnehmerländer an den Tag legten, sollte den ESC sowohl musikalisch als auch showtechnisch beflügeln, sorgte aber gleichzeitig für eine Betonung kultureller und nationaler Unterschiede, mit denen auf europäischer Bühne Eindruck hinterlassen werden sollte. Die Erwartungen an einen „guten“ ESC-Beitrag wurden um den Faktor nationale Symbolik erweitert.

Öffnung für ein breites Publikum

Nationale Symbole im Publikum zur Schau zu stellen, war dagegen bis in die späten 1980er Jahre eher verpönt. Für die geladenen Gäste kam es nicht in Frage, ihr feierliches Outfit mit Smoking und Abendkleid durch Fahnen zu korrumpieren. Erst 1991 wurden im Publikum zaghaft erste Fähnchen geschwenkt, wo im Saal die Delegationsangehörigen saßen, die keine Aufgabe auf der Bühne oder im Backstage hatten. Mit der Öffnung der Veranstaltung für ein breiteres Publikum, zunächst durch die Verlosung von Eintrittskarten durch die irische National Lottery, später durch regulären Verkauf an den Theaterkassen, erhielten zudem mehr Fans Zugang zu der Veranstaltung. Sie hatten den Wettbewerb die Jahre über treu am Bildschirm verfolgt und wollten das Geschehen nun hautnah vor Ort verfolgen.

Fahnenschwenkende Fans

Dabei war in den Fans ein zweifaches Zugehörigkeitsgefühl gewachsen: zum eigenen Land, dessen Künstlerin oder Künstler man bei diesem Anlass anfeuern wollte, aber auch zu den vielen Millionen anderen Menschen weltweit, die gerade ebenfalls den ESC verfolgen. So fühlte man sich als Teil einer Community, die gerade Fernsehgeschichte mitverfolgt. Die Öffnung des Wettbewerbs für eine breite Zuschauerschaft eröffnete nicht nur neue Refinanzierungsquellen für die ausrichtende Rundfunkanstalt, sondern schuf mit einem enthusiastisch jubelnden Publikum auch attraktive Hintergrundbilder für die Inszenierung der Beiträge auf der Bühne. Mittlerweile sind Einstellungen mit fahnenschwenkenden Fans in bunter Kostümierung nicht mehr aus der Veranstaltung wegzudenken.

Legende ESC

Seinen Fans verdankt der ESC weitaus mehr als fröhliche Schnittbilder. Die in den 1980er Jahren entstandene Community hat mit ihrer Liebe zum Wettbewerb einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass er heute weltweite Aufmerksamkeit genießt. Fanzines hielten die Erinnerung an die Wettbewerbsgeschichte am Leben, als sich in den Massenmedien kaum jemand dafür interessierte. Auf ihren Treffen verhalfen die Fanclubs Künstlerinnen und Künstlern wieder zu Ehren, die der Mainstream längst vergessen hatte. Und nicht zuletzt strebten viele ESC-Fans nach Positionen im Medienbereich, in denen sie den Wettbewerb und seine öffentliche Wahrnehmung aktiv mitgestalten konnten – als Redakteurinnen und Redakteure in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Sie alle trugen und tragen bis heute den Ruf des ESC als Multiplikatoren in den Medien und sozialen Netzwerken in die ganze Welt.

Der ESC ist er eine gelebte Tradition, ein wenig wie Ostern.

Ein Format geht um die Welt?

Der Erfolg des Eurovision Song Contests nach dem einheitlichen Re-Branding 2004 weckte bei den Verantwortlichen bald noch größere Ambitionen. 2007 wurde ein World Eurovision Song Contest in Aussicht gestellt, mit Ablegern des Eurovision Song Contests auf allen Kontinenten. Zu konkreten Ankündigungen kam es für die Wettbewerbe in Asien und Afrika, die allerdings bis heute nicht in der gewünschten Form realisiert wurden. Zwei weitere angestrebte Spin-Offs, Eurovision Canada und Eurovision Latin America, liegen seit zwei Jahren auf Eis. Nur der „American Song Contest“ mit Songs aus den 50 Bundesstaaten der USA wurde 2022 zum ersten Mal durchgeführt – Fortsetzung ungewiss. Doch warum gelingt es der EBU nicht, ihr Erfolgsformat in anderen Teilen der Welt zu etablieren?

Der ESC ist eine gelebte Tradition

Vielleicht liegt es daran, dass der ESC in Wahrheit doch kein Format ist. Er wurde geboren aus der Notwendigkeit, eine Plattform für regelmäßige Fernsehzusammenarbeit zu kreieren. Er überlebte, weil die Verantwortlichen ihn als Aushängeschild benötigten. Und er wuchs, weil der Eiserne Vorhang ihn mit neuen Impulsen fütterte.

Vor allem aber ist er eine gelebte Tradition, ein wenig wie Ostern: Es sind weder heidnische Fruchtbarkeitsriten noch christliche Erlösungshoffnungen, weder Häschenschule-Erinnerungen noch Osternester allein, die das Fest ausmachen – es ist alles zusammen. Und genauso speist sich auch die ESC-Tradition aus einer Vielzahl unterschiedlicher, zum Teil auch widersprüchlicher Quellen: Aus den Kindheitserinnerungen an familiäre Fernsehabende und Käseigel, aus der über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen Nähe, aber auch den Gegensätzen der Teilnehmerländer, aus dem Wunsch nach einem Durchbrechen des Alltags und aus dem Gefühl, dass gleichzeitig viele Millionen weiterer Menschen das Gleiche am Bildschirm verfolgen wie man selbst. All das lässt sich nicht auf ein Format reduzieren, weil es viel zu weit über das hinausgeht, worauf eine Formatentwicklung Einfluss hat. Aber es macht den Eurovision Song Contest zu dem, was er bis heute ist: einem Phänomen.


Dr. Irving Benoît Wolther („Dr. Eurovision“) ist Sprach- und Kulturwissenschaftler, Journalist und Buchautor. Er arbeitet u. a. für die offizielle deutsche Eurovision-Song-Contest-Webseite eurovision.de und hält dazu regelmäßig wissenschaftliche Vorträge zum ESC, u.a. als Gastredner am Informationszentrum der Deutschen Botschaft in Paris in Zusammenarbeit mit dem Institut d’Etudes Politiques de Paris (Sciences Po) 2011 oder als Keynote-Speaker bei der Tagung „Dare to Dream of Europe“ der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin 2019.