Kolumbien vor der Stichwahl: Vergibt das Land die Chance auf Frieden?

Mann mit Ausweis vor Wahlverzeichnis, 2014, Kolumbien
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Kolumbien wählt erneut: Ein Mann mit seinem Ausweis vor dem Wahlverzeichnis

Von dieser Seite des Atlantiks aus betrachtet, erscheinen die augenblicklichen Entwicklungen in Kolumbien schwer nachvollziehbar. Nach einem halben Jahrhundert bewaffneten Konflikts mit den revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) gibt es gerade eine reale Chance auf dessen baldiges Ende. Erst im Mai gab es weitere Fortschritte am Verhandlungstisch zwischen der Regierung und der FARC in Havanna. Noch dazu rief die FARC gemeinsam mit der zweiten kolumbianischen Guerilla, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN), einen einseitigen Waffenstillstand anlässlich der Präsidentschaftswahlen aus. Doch nach dem ersten Wahlgang steht der Friedensprozess auf dem Spiel.

Anfang des Jahres als "no-name" gehandelt, hatte Oscar Iván Zuluaga, der Kandidat von Ex-Präsident Álvaro Uribe, in den letzten Wochen in den Umfragen deutlich aufgeholt. Im Falle seiner Wahl zum Präsidenten, so hatte er angekündigt, werde er als eine seiner ersten Amtshandlungen den Friedensprozess suspendieren. Am 25. Mai besiegte er dann mit fast 30 Prozent der Stimmen den amtierenden Präsidenten Juan Manuel Santos, der etwas über 25 Prozent erzielte. Überraschend gut schnitten die konservative Kandidatin Marta Lucía Ramírez sowie Clara López vom Linksbündnis Demokratischer Pol mit jeweils über 15 Prozent ab. Enrique Peñalosa von der grünen Partei, ehemaliger Bürgermeister von Bogotá und im März noch als "Ave Phönix" bezeichnet, kam auf enttäuschende 8 Prozent. Am kommenden 15. Juni entscheidet die Stichwahl.

Protestwahl und Vorbehalte gegenüber dem Friedensprozess

Soviel ist klar: Mit einer Wahlbeteiligung von nur knapp über 40 Prozent, der niedrigsten in den letzten 40 Jahren, war dieser Urnengang auch eine Protestwahl. Als eine der schmutzigsten in der Geschichte wurde die Wahlkampagne bezeichnet. Beide führenden Kandidaten hatten sich schweren Anschuldigungen gegenüber zu verantworten. Santos habe, so denunzierte Uribe Anfang Mai, 2010 Wahlfinanzierung von Drogenhändlern in Höhe von zwei Millionen US-Dollar erhalten. Zuluaga wiederum sah man ein paar Tage später in einem geleakten Video mit einem später verhafteten Hacker über geheimdienstliche Informationen plaudern. Dass in diesem Wahlkampf zu unlauteren Mitteln gegriffen wurde, beweist nicht nur, dass es um viel ging. Es war auch Wasser auf die Mühlen eines politikverdrossenen Wahlvolkes, welches seit vielen Jahren der unguten Verquickung von Illegalität und Politik in einem ohnehin zutiefst klientelistischen, politischen System zuschauen muss.

Gleichzeitig sind die über 3,7 Millionen Zuluaga-Stimmen auch als Vorbehalt gegenüber dem Friedensprozess, einem der größten Streitpunkte dieser Wahl, zu deuten. Mit den 60 Prozent an Wahlverweigerern und den 15 Prozent der Konservativen ergibt sich das Bild einer Mehrheit in der Bevölkerung, die dem Friedensprozess offenbar apathisch, skeptisch oder gar ablehnend gegenübersteht. Hat das Ausland, dass die Verhandlungen seit Monaten mit Wohlwollen begleitet, irgendetwas missverstanden?

Die Stimmungslage im Land hat verschiedene Ursachen. Sie ist einerseits auf die schwache Lobby zurückzuführen, die das Friedensabkommen bis jetzt mobilisiert hat. Konzentriert auf die Verhandlungen im fernen Havanna hat die Regierung nicht genug unternommen, um das Thema in die Öffentlichkeit hineinzutragen, es zu übersetzen und Unterstützung in der Bevölkerung zu mobilisieren. Das Wahlergebnis beweist jedoch auch und vor allem, dass es in Kolumbien einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil gibt, den der Konflikt nicht ausreichend tangiert, um sich auf die für seine Lösung notwendigen Zugeständnisse einzulassen. Nicht zufällig schnitt Santos in der Mehrheit der Gemeinden, die direkt vom Konflikt mit der FARC betroffen sind, besser ab als sein Hauptkontrahent. Einige Teile der Bevölkerung profitieren wiederum direkt vom Konflikt, bzw. haben kein Interesse an den sozialen, politischen und ökonomischen Umwälzungen, die die Umsetzung eines Friedensabkommens mit sich bringen würde. In diesem Kontext stößt die Debatte des mächtigen Ex-Präsidenten, in Havanna würde das Land an Terroristen verkauft, auf offene Ohren.

Blickt man auf die Stimmen für die Kandidat/innen links der Mitte, ist die Wahl schließlich auch ein Votum gegen Santos. Aus den Reihen des Demokratischen Pols und der Grünen Partei wirft man dem Präsidenten die nicht ausreichende Umsetzung der in Aussicht gestellten sozialen Reformen und die Fortführung eines klientelistischen Politikstils vor. Die unglückliche Ab- und dann wieder Einsetzung des Bogotaner Bürgermeisters Gustavo Petro führte sicherlich zu Stimmenverlusten in der Hauptstadt. Mit der Aussicht auf einen zweiten Wahlgang entschieden sich insofern viele Mitte-Links-Wähler/innen für die kleineren Parteien - und einen Denkzettel für den Präsidenten.

Neue Koalitionen im Endspurt

Nun ist zu alledem Santos aber auch einiges an nötigem Rückenwind für den Endspurt abhanden gekommen. Marta Lucía Ramírez von der konservativen Partei hat sich offiziell auf die Seite Zuluagas geschlagen. Pol und Grüne haben sich nach internen Debatten entschlossen, sich als Parteien nicht festzulegen, was einzelne prominente Mitglieder, unter anderem Clara López selbst, nicht davon abgehalten hat, sich für Santos auszusprechen. Selbst wenn sich nur wenige ihrer Wählerinnen und Wähler für den Uribe-Kandidaten entscheiden dürften, beinhalten diese Partei-Entscheidungen doch eine symbolische Schwächung des Präsidenten und, angesichts der Alternativen, des Friedensprozesses.

Santos geht nun mit seiner Koalition aus der U-Partei, den Liberalen und des Radikalen Wandels, mit der Schützenhilfe Petros, der sich - wohl nicht ganz ohne Eigeninteresse - hinter den Präsidenten gestellt hat, sowie mit dem Rückhalt der wichtigsten Medien des Landes ins Rennen. Symbolisch nicht unbedeutend haben sich die linke Patriotische Union wie auch eine große Zahl Intellektueller und sozialer Bewegungen für Santos als Garant für die Fortsetzung des Friedensprozesses ausgesprochen. Viele von ihnen betonen dabei deutlich ihre Distanz zum restlichen Regierungsprogramm und –stil. Aktuellen Umfragen zufolge liegen beide Kandidaten nahezu gleichauf.

Kein Frieden mit Zuluaga

Infolge des Bündnisses mit der konservativen Kandidatin gibt Zuluaga nun vor, seine Position zum Friedensprozess revidiert zu haben. In einer gemeinsamen Erklärung heißt es, man sei bereit, den Prozess unter bestimmten Bedingungen fortzuführen, unter anderem derjenigen, dass die FARC binnen eines Monats auf Anschläge, die Rekrutierung von Minderjährigen und das Pflanzen von Anti-Personenminen zu verzichten hat. Was auf offene Ohren einer großen Bevölkerungsmehrheit stoßen wird, die die FARC zutiefst verachtet und sich mit Konzessionen schwer tut, mag für den Wahlsieg ein gutes Rezept sein. Für das Friedensabkommen aber bedeuten diese Konditionen, sollte Zuluaga bei ihnen bleiben, eine gehörige Destabilisierung und mit großer Wahrscheinlichkeit das Aus.

Eine Woche vor der Stichwahl haben FARC und Regierung nun eine gemeinsame Erklärung herausgegeben, in der beide Seiten Verantwortung für die Opfer des Konflikts übernehmen. Das Bekenntnis gegen ein "gegenseitiges Gewähren von Straflosigkeiten" dürfte einer der zentralen Anschuldigungen Zuluagas dem Prozess gegenüber den Wind aus den Segeln nehmen. Es unterstreicht gleichzeitig die Kluft zur Auffassung des Uribe-Kandidaten, für den es nur einen Täter gibt: die FARC.

Seit Beginn seiner Amtszeit bestand für den als Uribe-Erbe angetretenen Santos das Risiko, sich durch seinen neuen Kurs die Unterstützung des rechten Lagers zu verscherzen, ohne bei den Linken ausreichend punkten zu können. Der aus dem bürgerlichen Lager stammende Santos erscheint bei allen Vorbehalten allerdings als der am besten positionierte Kandidat, um dieses politisch weitgehend konservative Land aus dem bewaffneten Konflikt zu führen. Der laufende Verhandlungsprozess hat es bisher bedeutend weiter gebracht als jeder Versuch zuvor. Kein Zweifel: Mit einer Ratifizierung eines Abkommens begännen erst die eigentlichen Herausforderungen der Friedensarbeit. Doch wäre es tragisch, wenn sich das kolumbianische Wahlvolk nun selbst der Chance berauben würde, damit endlich anfangen zu können.