Endlich Frieden für Kolumbien?

Demonstrationszug
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Marsch für Frieden und soziale Gerechtigkeit, 9. April 2013, Bogota

Präsident Juan Manuel Santos‘ Ankündigung im September 2012, man habe sich auf einen neuen Verhandlungsprozess mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) geeinigt, kam überraschend. Vorgespräche mit der FARC waren unter strengster Geheimhaltung geführt worden. Nicht ohne Grund: Nachdem der letzte von bisher vier erfolglosen Verhandlungsversuchen 2002 unter anderem am fehlenden Interesse der Guerilla gescheitert war und Santos’ Vorgänger Präsident Álvaro Uribe große Teile der Bevölkerung für die Option eines militärischen Sieges gewonnen hatte, war das Szenario einer politischen Lösung des Konflikts weitestgehend diskreditiert. Ehe man sich also mit einem neuen Verhandlungsversuch aus dem Fenster lehnen konnte, galt es, sich diskret der realistischen Erfolgsaussichten eines solchen Prozesses zu vergewissern.

Diese sind dieses Mal allerdings so hoch wie nie zuvor. Beide Seiten scheinen zur Einsicht gekommen zu sein, dass die kriegerische Auseinandersetzung auf kurze und mittlere Sicht zu keiner Entscheidung führen wird. Zwar ist die Regierung nach Uribes achtjährigem Feldzug gegen die FARC militärisch eindeutig in der Vormachtstellung, eine Aussicht auf einen Sieg gibt es jedoch absehbar nicht. Die FARC-Führung hat offenbar wiederum verstanden, dass sich aus der verbleibenden militärischen Stärke eine wahrscheinlich letzte Chance ableitet, am Verhandlungstisch noch etwas herauszuholen, das den jahrzehntelangen politischen Kampf rechtfertigt. Agenda und Ziel der Verhandlungen spiegeln diese Interessen- und Kräftelage realistisch wider. Anders als bei vorangegangenen Versuchen haben sich die Parteien darauf geeinigt, im Falle erfolgreicher Gespräche den Krieg zu beenden, ein bemerkenswerter Positionswandel auf Seiten der Guerilla, die bisher nur zur Waffenniederlegung bereit gewesen war nach erfolgreicher Umsetzung eines Friedensabkommens. Die sechs Verhandlungsthemen bieten ihrerseits ausreichend Raum für politische Zugeständnisse an die FARC, stellen aber grundsätzliche Paradigmen wie die wirtschaftliche Ordnung des Landes nicht zur Debatte. Verhandelt wird in Havanna, während in Kolumbien weiter Krieg geführt wird.

Verhandlungsfortschritte – so weit wie nie zuvor

Nach sechzehn Verhandlungsmonaten und neunzehn –runden sind beide Parteien soweit vorgedrungen wie nie zuvor. Es gibt Einigungen bei den ersten beiden Verhandlungspunkten: umfassende ländliche Entwicklung und politische Teilhabe. Über das Drogenproblem wird gerade verhandelt. Insbesondere das erste Thema ist nicht nur Leib- und Magenthema der FARC, die extrem ungleiche Landverteilung in Kolumbien war und ist Nährboden für verschiedene Formen von Gewalt, die ökonomische und soziale Marginalisierung der Kleinbauern gilt als Hauptgrund dafür, dass Kolumbiens Landwirtschaft bisher weit unter ihrem Produktivitätspotential geblieben ist. Die nun vereinbarten Reformen umfassen die Formalisierung von Eigentumstiteln und –rechten, Landzugang und –nutzung, begleitende soziale Unterstützung sowie die Einrichtung von Umweltschutzzonen. Durchgesetzt könnten diese Maßnahmen Kolumbiens Landwirtschaft sozial gerechter, nachhaltiger und gleichzeitig produktiver machen. Auf kontroverse Hebel wie etwa die Enteignung rechtmäßig erworbenen Landes wird man hierbei verzichten können. In den Umverteilungstopf gehen die vielen Ländereien, die derzeit gar nicht oder unproduktiv genutzt werden, sowie die Millionen Hektar, von denen Kleinbauern während des Konflikts gewaltsam vertrieben wurden.

Die Einigungen zum zweiten Thema sind nicht weniger zentral. Spätestens nach dem Mord an über 3000 Mitgliedern der „Patriotischen Union“, einer politischen Partei, die aus einem Abkommen mit der FARC Mitte der 80er Jahre hervorgegangen und als politisches Auffangbecken für die Guerilla nach einer Demobilisierung gedacht war, sowie angesichts der gängigen Stigmatisierung und Kriminalisierung linker sozialer Bewegungen ist das Thema des Übergangs vom Guerilla-Dasein zur legalen politischen Organisation auf Seiten der FARC mit größtem Misstrauen behaftet. Die Sicherheitsgarantien, auf die sich beide Seiten geeinigt haben und die in Oppositionsstatuten festgeschrieben werden sollen, sind in diesem Zusammenhang bedeutend. Ebenso wichtig ist der Beschluss, in Einflussgebieten der FARC einer Anzahl gewählter Vertreter/innen sozialer Bewegungen politische Teilhabe im Repräsentantenhaus zu ermöglichen.

Die FARC ist am Verhandlungstisch also durchaus zu ideologischen Kompromissen bereit. Die Beschlüsse stehen bisher für eine Vertiefung der Demokratie und für eine soziale Abfederung der Marktordnung. Gemäß den Verhandlungsregeln gilt jedoch nichts als definitiv beschlossen, bevor nicht alles beschlossen ist. Je weiter jedoch die Verhandlungen voranschreiten, desto größer sollte das beiderseitige Interesse sein, den Prozess zu Ende zu bringen, um bisher Erreichtes und daran geknüpfte Erwartungen und die Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen.

Unwägbarkeiten bleiben

Trotzdem hat der Prozess noch einige Hürden zu nehmen. Sicherlich nicht zufällig ist die Reihenfolge der Verhandlungsthemen. Ging es bei den ersten Themen um einen Tribut an die causa der FARC, so steht noch ein Thema im Raum, bei dem die Guerilla weitaus mehr Verantwortung zu übernehmen haben wird, als sie dies bisher tut: die Frage der Opferrechte. Internationales und kolumbianisches Recht verbietet Amnestien schwerer Verbrechen, wie sie eine Vielzahl von FARC-Kämpfern begangen hat. Eine für die FARC akzeptable Formel zu finden, die zugleich die Rechte der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung ausreichend bedient, wird keine einfache Sache werden. Zentral wird hierbei die Frage sein, inwieweit alle Konfliktakteure, staatliche eingeschlossen, für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden.

Fast schwerwiegender mögen jedoch die Herausforderungen sein, die jenseits des Verhandlungstisches lauern. So gibt es zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte politische Kräfte, die den Friedensprozess explizit ablehnen. Ex-Präsident Álvaro Uribe, der in der kolumbianischen Gesellschaft nach wie vor auf beträchtliche Resonanz stößt, hat sich und seine neue Partei „Demokratisches Zentrum“ in Opposition zu der von ihm verunglimpften „Verhandlung der nationalen Agenda mit Terroristen“ positioniert. Er selbst führt die Liste der im März zu wählenden Kandidaten zum Senat an. Sollte es ein Friedensabkommen geben, könnte ein von Uribe und seinen Gefolgsleuten geprägter Kongress die Umsetzung vieler Beschlüsse bedeutend erschweren.

Doch wäre nicht nur die Opposition im Kongress eine Gefahr für die Friedensbemühungen. Zunächst wird die kolumbianische Bevölkerung über ein mögliches Friedensabkommen abstimmen müssen. Seit Uribes acht Jahre währender demokratischer Sicherheitspolitik, die den Konflikt an die Peripherie des Landes drängte und den baldigen militärischen Sieg prophezeite, ist der Konflikt für weite Teile der Bevölkerung insbesondere in den Ballungszentren marginal geworden. Selbst wenn Umfragen zufolge eine Mehrheit den Friedensprozess unterstützt, bleibt doch die Frage offen, zu welchen Zugeständnissen diese Mehrheiten gegenüber einem heute zutiefst diskreditierten Akteur wie der FARC bereit sind.

Bei der daher dringend notwendigen gesellschaftlichen Überzeugungsarbeit für den Friedensprozess hat die Regierung bisher einige Schwächen offenbart. Dass die Verhandlungen unter großer Diskretion fern des Landes geführt werden, hat gute Gründe. Es fehlt jedoch an offiziellen Fürsprechern bzw. Institutionen, die es sich zur Aufgabe machen, die Gesellschaft mitzunehmen und auf die enormen Herausforderungen einer möglichen Post-Konflikt-Phase vorzubereiten. Dem oft ambivalenten Diskurs zum Friedensprozess nach zu urteilen, versucht der Präsident selbst, viele verschiedene Interessengruppen gleichzeitig zu bedienen. Verteidigungsminister Carlos Pinzón, zuständig für den Krieg gegen die FARC, gibt den Hardliner. Sergio Jaramillo, Hochkommissar für den Frieden und von Amts wegen prädestiniert für die pädagogische Mission, ist im Verhandlungsteam absorbiert. Der ehemalige Bürgermeister von Bogotá Lucho Garzón, vom Präsidenten als Staatsminister für den Sozialen Dialog für diese Aufgabe bestellt, hat sich bisher kaum hervorgetan. Insofern bleibt die Aufgabe der „Friedenspädagogik“, der „pedagogía de paz“, bei den vielen aktiven zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ob deren Engagement ausreicht, um diese Hürden zu nehmen, wird sich zeigen.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass es neben den verbleibenden geschätzten 8000 FARC-Kämpfern noch andere bewaffnete Gruppen im Land gibt, welche die Umsetzung eines Friedensabkommens sabotieren könnten. Von der Regierung als „kriminelle Banden“ bezeichnete paramilitärische Nachfolgegruppen könnten nicht nur das potentielle Vakuum besetzen, das durch die Demobilisierung der FARC entstehen würde, sie könnten auch zu Handlangern derjenigen werden, die sich gegen Landrückgabe und sonstige Reformen stemmen. Einen bitteren Vorgeschmack dafür geben die Drohungen und Morde gegenüber Opfervertretern und Bauernführern. Aber auch auf Seiten der FARC ist nicht sicher, ob die komplette Struktur einem Friedensabkommen und einer Demobilisierung Folge leisten wird oder ob nicht einzelne Einheiten, insbesondere die am meisten in Drogen- und andere lukrative Geschäfte verwickelten, es vorziehen werden, in der Kriminalität zu bleiben.

Schließlich ist ein Friedensschluss auf Dauer nicht ohne Kolumbiens zweite Guerilla, die Nationale Befreiungsarmee (ELN), zu denken. Mit geschätzten 1500 – 2000 verbleibenden Kämpfern unterhält die ELN militärische Präsenz und Aktivitäten an der mittleren venezolanischen Grenze sowie an der Pazifikküste. Eine Fortsetzung ihres Kampfes würde die Umsetzung eines Friedensabkommens mit der FARC unterminieren. Man stelle sich die Schwierigkeit vor, einen Waffenstillstand mit der FARC und deren Waffenniederlegung zu verifizieren, während die ELN den Guerilla-Krieg fortsetzt. Viele Reformen, wie zum Beispiel die Neuausrichtung des staatlichen Militärapparats, könnten nicht in Gang kommen. Wenngleich es in den letzten Monaten immer wieder positive Willensbekundungen auf beiden Seiten gegeben hat, in Friedensverhandlungen einzutreten, ist jedoch nicht klar, ob Vorgespräche derzeit im Gange und wie weit diese fortgeschritten sind.

Es gibt also nicht nur Rückenwind für den Verhandlungstisch in Havanna. Trotzdem ist dieser Prozess nach wie vor die beste Chance, die das Land je hatte, den Konflikt zu beenden und so die Voraussetzungen für weniger Gewalt und mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Dies könnte zum positiven Impuls für die gesamte Region werden, die bekanntlich unter den höchsten Gewaltindizes weltweit leidet. Ein Friedensabkommen mit der FARC könnte zum Wegweiser für die Bekämpfung struktureller Ursachen von Gewalt werden - jenseits einseitiger und in erster Linie repressiver Sicherheitspolitiken, wie sie vielerorts immer noch in Mode sind. In diesem kolumbianischen Wahljahr 2014 steht viel auf dem Spiel. Jetzt geht es darum, die Öffentlichkeit für den Prozess zu stärken. Die internationale Gemeinschaft tut gut daran, Kolumbien nicht aus den Augen zu verlieren.