Nach #EndSARS: Forderung nach einer inklusiven Protestbewegung

Kommentar

Möglicherweise erzählt man sich über Nigeria in sechzig Jahren, dass die Revolution im Jahr 2020 endlich mit Hilfe von Twitter und Instagram doch noch zustande kam. Aber stimmt das auch?

#EndSARS: Protestbewegung

In der bisherigen Erfahrung der Nigerianer/innen gab es wenige derart düstere und zugleich potenziell hoffnungsfrohe Augenblicke, wie die Entfaltung und das organische Anwachsen der #EndSARS-Bewegung, bei der es im Oktober im gesamten Land zu Massenprotesten kam. Zwei Wochen lang zeigten Nigerianer/innen gleich welcher Überzeugung, Generation oder aus welcher Region des Landes, ein Verständnis für ein gemeinsames Schicksal und forderten vereint das Ende des eklatanten Machtmissbrauchs der Polizei. Hashtag-Varianten wie #EndPoliceBrutality machten gleich zu Beginn der friedlichen Proteste deutlich: die Bürger hatten verstanden, dass die Probleme noch viel weiter reichen als die Exzesse der „Special Anti-Robbery Squad (SARS)“ -  1992 gegründet war der ursprüngliche Auftrag dieser Polizeieinheit die Aufklärung von Morddelikten. Es handelt sich vielmehr um ein endemisches Problem der nigerianischen Polizeikräfte und vorgeschlagene Reformen müssen dieses bei der Wurzel anpacken.

Angriff gegen die Mittelschicht

Es ist wichtig, innezuhalten und darüber nachzudenken, was der Bewegung so viel Zugkraft verliehen und es ihr ermöglicht hat, tatsächlich eine Reaktion seitens der Regierung hervorzurufen. Jahrzehntelang haben die Bürger/innen Nigerias stillschweigend eine absolut menschenunwürdige Behandlung durch die SARS und die nigerianische Polizei erduldet – es ist bestimmt kein Zufall, dass nun einer der beliebtesten Slogans der Bewegung, #sorosoke, wörtlich übersetzt „Sprecht laut!" bedeutet. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben in diesem Fall mehrere Faktoren einen mächtigen Funken erzeugt. Ein Schlüsselfaktor scheint zu sein, dass sich die Gewalt der SARS zunehmend gegen Mitglieder der gebildeten, aufstrebenden und privilegierten Klassen richtete. Das obskure Profiling mit dem die SARS ihre Opfer auswählte, schien viele Merkmale der Mittelschicht zu umfassen, sodass auch die Kinder angesehener Bürger/innen Opfer der Übergriffe wurden. Die üblichen Vorteile ihrer Schichtenzugehörigkeit konnten sie nicht vor der SARS schützen. Wenn überhaupt, wurden sie dadurch noch anfälliger für deren Angriffe. Dieses düstere System erwies sich im Nachhinein als Glücksfall und Motor für das Entstehen der #EndSARS-Bewegung, da die Polizei die Rechte einer Klasse von Bürger/innen mit Füßen trat, die de facto über das Selbstbewusstsein und die nötigen Mittel verfügen, um etwas in Bewegung zu setzen und gegen die Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfuhren, anzugehen.

Schikane des informellen Sektors

Was ist jedoch mit den Nigerianer/innen am unteren Ende des Klassen- und Einkommensspektrums? Mit denjenigen, die alltäglich mit der von der Regierung geduldeten Gewalt konfrontiert sind, deren Kämpfe jedoch nicht wahrgenommen werden, weil sie seit langem an den Rand der Gesellschaft verbannt sind? Insbesondere in Lagos hat die „Politik der Kriminalisierung“ Auswirkungen auf diese Schicht, der auch die Arbeitenden im informellen Sektor und die Bewohner/innen informeller Siedlungen angehören. Sie werden regelmäßig von Polizeikräften und von der Stadt beauftragten Sicherheitskräften – mit Namen wie „Kick Against Indiscipline“ („Schlag gegen Unordnung“) – schikaniert. Während sie versuchen, ihrem Alltag nachzugehen, werden sie unter fadenscheinigen Gründen festgenommen und oftmals nur gegen Kautionszahlungen freigelassen. Familienmitglieder und Freund/innen müssen dafür das ohnehin schon knappe Geld mühsam zusammenkratzen. Straßenverkäufer/innen werden regelmäßig wie Ungeziefer von diversen Einsatzkommandos von öffentlichen Plätzen vertrieben. Und das, obwohl die Händler/innen regelmäßig Abgaben an offizielle und inoffizielle Steuereintreiber zahlen müssen.
Auch sind die Viertel, in denen viele dieser Arbeitenden leben, permanent in Gefahr, geplündert und niedergerissen zu werden. So ist es in der Vergangenheit bereits mehrfach im Namen des Gesetzes geschehen. Genauso wie auf den Straßenmärkten nehmen die Bewohner/innen der informellen Siedlungen die absurden staatlichen Steuern hin, nur um den von der Regierung geduldeten oder initiierten Belästigungen zu entgehen – und nicht etwa im Gegenzug für erbrachte staatliche Serviceleistungen.

Was hat das mit der #EndSARS-Bewegung zu tun? Kurzgesagt: so ziemlich alles. Ein Lichtblick in dem düsteren Szenario der verstörenden Reaktion der Regierung auf die Proteste ist, dass dies offenbar ein regelrechtes politisches Massenerwachen bei jungen wie älteren Nigerianern ausgelöst hat. Die öffentlichen Diskussionen der Bürger/innen haben sich nun zum großen Teil auf Fragen wie die bestmögliche langfristige Organisation und das gemeinsame strategische Vorgehen verlagert. Insbesondere angesichts der bevorstehenden Wahlen im Jahr 2023, für die die Jugend lautstark den Aufbau politischer Parteien einfordert, die ihre Interessen besser vertreten werden. Abseits des Rampenlichts haben mehrere Organisationen und Denkfabriken der Zivilgesellschaft bereits begonnen, Foren für Debatten und systematisches politisches Engagement einzuberufen. Sie alle wollen die durch die Proteste entstandene Dynamik nutzen.

Zwischen zwei Welten

Die #EndSARS-Demonstrationen haben sich zwar vorwiegend auf der Straße abgespielt, sie sind jedoch von technologischen Phänomenen wie den sozialen Medien und Kryptowährungsplattformen vorangetrieben worden – Instrumente, die den Ablauf der Demonstrationen derart verändert haben, dass frühere Generationen nur schwer Schritt halten können. Diese Instrumentarien, gepaart mit guter Bildung und Empowerment ihrer Nutzer/innen, haben dazu geführt, dass ehemals – unter anderem auch von der SARS unterdrückte Stimmen – gehört wurden. Indes ist weniger klar, inwieweit diese Jugendbewegung sowie die daraus resultierenden breiteren gesellschaftlichen Debatten auch die staatliche Repressionserfahrung der oben genannten armen und marginalisierten Gruppen berücksichtigen werden. Gruppen, die täglicher staatlicher Gewalt und Repression ausgesetzt sind, sich aber nicht über soziale Medien und Hashtags organisieren können. Während wir nun damit beschäftigt sind Strategien zu unserem weiteren Vorgehen zu entwickeln, ist es unabdingbar dafür zu sorgen, dass diese marginalisierten Stimmen nicht nur Ausdrucksplattformen finden, sondern auch einen festen Platz in den öffentlichen Diskursen bekommen. Nur so können wir Narrative und Strukturen schaffen, die wirklich allen gerecht werden.
Diesen Punkt gilt es hervorzuheben, angesichts der Realität Nigerias, in der die unterschiedlichen Klassen- und Einkommensstufen sehr divergierende Erfahrungen und Erwartungen an die Regierung haben – so unterschiedlich in der Tat, dass es oft unmöglich erscheint, diese getrennten Welten zusammenzubringen. Es muss jedoch gelingen diese Kluft zu überbrücken, wenn der von uns angestrebte Wandel Realität werden soll. Die vorrangige Frage lautet also: Wie ist das zu schaffen? Allein das Aufwerfen der Frage gewährleistet noch keine sofortigen Lösungen, aber es aktiviert unser kollektives Bewusstsein, die Möglichkeiten nach Verbindendem zu suchen und es zu erkennen.

Forderung nach einem inklusiven Narrativ

Eine Möglichkeit wäre es, die einflussreichen Plattformen, die aus der gegenwärtigen Bewegung hervorgehen, zu nutzen und sich mit den Graswurzel-Initiativen zu vernetzen, die bereits dabei sind, das Mitspracherecht der Unterdrückten in den Armenvierteln einzufordern. Einige der dynamischeren Initiativen profitieren bereits von dem strategischen Blick von „Brückenbauern“. Personen, die zwar selbst den marginalisierten Gruppen angehören, aber dennoch über die nötigen Instrumentarien verfügen, die den Dialog und die Verbindung mit Außenstehenden ermöglichen. Eine dieser Initiativen hat in Vergangenheit konsequent Vorfälle von Polizeigewalt in einer einkommensschwachen Gegend von Lagos dokumentiert und veröffentlicht. Im Zuge von #EndSARS rief sie eine Kampagne ins Leben, die den Bewohner/innen eine Art Politikunterricht in einer Sprache vermittelte, die sie verstehen konnten. Doch es ist noch viel Platz nach oben, um diese Stimmen lauter werden zu lassen und gleichzeitig ihre Authentizität und Kraft zu bewahren.

Dabei geht es nicht um einen Akt der Kooptation oder um die herablassende Haltung einer gebildeten „Elite“, sondern vielmehr darum, zu verstehen, dass unsere Erfahrungen als Nigerianer/innen, unabhängig von unseren Lebensumständen, alle gleichermaßen ihre Berechtigung haben. Für viele Bürger/innen wird das Überbrücken der Kluft wahrscheinlich einige Übung und ein anderes Selbstverständnis erfordern. Aber für die neue Art von Demokratie, die wir jetzt wohlwissend aufbauen müssen, ist der Brückenschlag für den langfristigen Erfolg als Nation unentbehrlich. Wenn wir jetzt damit beginnen, können wir in sechzig Jahren womöglich bestätigen, dass der Wendepunkt für ganz Nigeria tatsächlich jetzt stattgefunden hat.