Die Soziale Frage: Der Weg zum Wohlfahrtsstaat

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Gesellschaftliche Veränderungen sind zu­­gleich Treiber und Ergebnis staatlich organisierter Sozialpolitik. Eine Entwicklungsgeschichte.

Sozialatlas Infografik: Umverteilung von Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträgen nach Zahl der Empfängerinnen und Empfänger sowie Summen
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Instrumente wie Kurzarbeitergeld ermöglichen es, in Krisen schnell zu helfen, so 2020 in der Corona-Pandemie.

Ein Sozialstaat ist nie statisch. Was er zu leisten vermag und wie er organisiert ist, kann durch Ökonomie und Politik fortwährend beeinflusst und verändert werden. Damit einhergehend wandeln sich auch die Erwartungen und Anforderungen der Menschen, was ihr Staat für sie tun sollte. Daraus resultieren immer wieder politische Konflikte.

„Soziale Frage“ muss politisch gelöst werden

Die Anfänge moderner Sozialpolitik im Sinne heutiger Wohlfahrtsstaaten hängen mit den weitreichenden Umwälzungen zusammen, die Industrialisierung, Verstädterung und Bevölkerungswachstum sowie eine massenhaft zunehmende Armut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorbringen. Sie münden in der „sozialen Frage“: Die wird nicht mehr als Schicksal Einzelner betrachtet, sondern als gesellschaftlich erzeugtes Risiko behandelt, das politisch gelöst werden muss.

Cover Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022 bringt Übersicht in die Komplexität des Sozialsystems, zeigt seine Grundlagen und Perspektiven. So wird sichtbar, dass der soziale Zusammenhalt auf einer Kooperation von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft beruht – und seine Zukunft nur gemeinsam gestaltet werden kann.

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Der Druck, den die zu Beginn der Industrialisierung wachsende Verelendung ausübt, führt zu einem strukturellen Wandel hin zu einer staatlich organisierten Sozialpolitik. Zugleich liefert das rasante Wirtschaftswachstum jener Epoche die Voraussetzungen in Form von Einkommen und Steuern. Allerdings spielen Weltanschauungen und Werte eine zentrale Rolle dabei, wie und wo diese Mittel eingesetzt werden: Ob im Sozialismus oder in konstitutionellen Monarchien, ob geleitet von der katholischen Soziallehre oder dem weltlichen Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – stets begründen und begleiten moralische Grundwerte und Visionen die Forderungen nach sozialem Fortschritt.

Nach den Arbeitern ist die Mittelschicht im Fokus

Der Interessenausgleich und die Machtverteilung zwischen Parteien, Gewerkschaften und Verbänden prägen den Weg zum Wohlfahrtsstaat. In der frühen Phase sind es autoritäre Systeme, die Sozialpolitik in einer Doppelfunktion zur Herrschaftssicherung und Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft betreiben: Dafür typisch ist das deutsche Beispiel der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung (1881–89). Unter Bismarck entsteht die erste Rentenversicherung der Welt.

Nach dem Ersten Weltkrieg treiben erstarkte linke Kräfte und Regierungen den Ausbau des Wohlfahrtsstaates voran. Daneben erweisen sich in Europa auch Konservative als Verfechter staatlicher Wohlfahrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erweitert die Sozialpolitik ihre Zielgruppen über die Arbeiterschaft und Armen hinaus auf die Mittelschicht, die heute etwa 65 Prozent der Bevölkerung umfasst.

Socialatlas Infografik: Die Anfänge institutionalisierter Sozialpolitik werden ins Hochmittelalter datiert
Armut zu bekämpfen treibt Gesellschaften seit jeher um. Weltanschauungen und Werte prägen das Vorgehen. Zum vergrößern hier klicken.

Das auf Bismarck zurückgehende Modell weist Besonderheiten auf, die im Grundsatz stabil geblieben sind: Erfasst sind abhängig beschäftigte ­Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Familien, nicht aber Verbeamtete und Selbstständige. Die Finanzierung erfolgt über Beiträge. Die Höhe der Transferleistungen wird auf Grundlage der Höhe der Löhne bemessen. Dienst- und Sachleistungen werden über Abgaben und Steuern finanziert, aber durch Dritte erbracht. Ihre Organisation erfolgt in Selbstverwaltung durch Arbeitgebende und Arbeitnehmende.

Verschiedene Sozialstaats-Modelle in Europa

In Europa existieren große Unterschiede, wie Sozialstaaten funktionieren. In der Wissenschaft spricht man von den „drei Welten“ des Wohlfahrtskapitalismus. Der liberale Typ, Beispiel Großbritannien, betont den freien Markt und die Familie; Anspruchsrechte sind gering entwickelt und mit Bedürftigkeitsprüfungen verbunden.

Im konservativen Wohlfahrtsstaat wird stärker interveniert, allerdings ist er zentriert auf die Sozialversicherung – mit der Folge, dass soziale Rechte nicht universell ausgestaltet sind. Das Subsidiaritätsprinzip, wonach eine (staatliche) Aufgabe so weit wie möglich von der unteren Ebene, der jeweils kleineren Verwaltungseinheit oder freien Trägern, übernommen wird, spielt – wie in Deutschland – eine zentrale Rolle. Der sozialdemokratisch verfasste Wohlfahrtsstaat, wie man ihn aus Skandinavien kennt, ist universell ausgerichtet. Die Ansprüche an ihn basieren auf einklag­baren sozialen Bürgerrechten. Er speist sich weitgehend aus Steuern statt aus Abgaben. Seine Leistungen kommen fast ausschließlich von einem öffentlichen Dienst.

Unterschiedliche Profiteure der Wohlfahrtsstaaten

In liberalen Wohlfahrtsstaaten profitieren Reiche, aber auch junge, gesunde und gut ausgebildete Menschen. Im konservativen Modell werden nicht erwerbstätige Familienangehörige zwar mitversorgt, aber auch vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Sozialdemokratisch orientierte Staaten schaffen es, positive Wechselwirkungen zwischen dem Angebot an Sozialleistungen (etwa Kindergärten) und Arbeitsplätzen (etwa für Mütter) zu erzeugen.

Allerdings ist ein einfaches Voneinanderlernen für die ­Gesellschaften schwer, denn die drei Welten basieren auf politischen Ideen und Arrangements, die langfristig gewachsen sind. Dennoch werfen 150 Jahre nach Bismarck die von der Globalisierung, dem Klimawandel und technischem Fortschritt getriebenen ökonomischen Umwälzungen neue soziale Fragen auf – ob zur klimaneutralen Wohlstandssicherung, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder zur Qualifikation für die digitalisierte Arbeitswelt. Darin gründen auch die Debatten um neue Konzepte wie zur Grundsicherung oder der Verknüpfung von der Sozial- mit der Bildungspolitik.