Sozialsystem: Komplex, aber gestaltbar

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Eine Vielzahl rechtlicher Grundlagen regelt die Ansprüche auf Leistungen zur Existenzsicherung und Daseinsfürsorge. Politik gestaltet sie über Gesetze, manchmal stoßen Gerichtsurteile Änderungen an.

Sozialatlas Infografik: Es wirkt das Solidarprinzip: Gesetzlich Versicherte unterstützen einander, unabhängig von persönlichen Risiken
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Für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen besteht eine weitgehende Versicherungspflicht, Verbeamtete und Selbstständige haben Wahlmöglichkeiten.

Millionen von Menschen ist der Sozialstaat allgegenwärtig, jeden Tag – nämlich wenn sie Leistungen beziehen wollen, zum Beispiel so: Eine 35-jährige Frau, alleinerziehend mit zwei Kindern im Alter von fünf und zehn Jahren, hat in der Pandemie ihre Stelle verloren. Das Arbeitslosengeld fließt zwar, aber reicht nicht zum Leben. Also muss sie „aufstocken“, Arbeitslosengeld II ­beziehen. Das kommt aber nicht von der Arbeitsagentur, sondern vom Jobcenter. Der Kindsvater unterstützt sie nicht, also hatte sie – noch in Lohn und Brot – einen Unter­haltsvorschuss beim Jugendamt beantragt. Der wird nun vom Jobcenter gegengerechnet, genau wie das Kindergeld von der Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit. Und so weiter.

Cover Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022 bringt Übersicht in die Komplexität des Sozialsystems, zeigt seine Grundlagen und Perspektiven. So wird sichtbar, dass der soziale Zusammenhalt auf einer Kooperation von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft beruht – und seine Zukunft nur gemeinsam gestaltet werden kann.

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Komplexe rechtliche Rahmenbedingungen

Es ist kompliziert: Die Sozialleistungen müssen bei verschiedenen Stellen beantragt und von unterschiedlichen Behörden bewilligt werden. Das Geld kommt, je nachdem, vom Bund, von den Ländern oder den Kommunen. Das Beispiel zeigt die Komplexität in den Zuständigkeiten und bei der Finanzierung sozialer Sicherungssysteme, die zudem auf verschiedene föderale Ebenen und Institutionen verteilt sind. Die Zugangsvoraussetzungen zu diesen Leistungen und ihre Höhe sind in zwölf Sozialgesetzbüchern (SGB) festgelegt. Da der Gesetzgeber darin nicht jeden Einzelfall regeln kann, bieten die Rechtsvorschriften Interpretationsspielraum. Im Streitfall müssen die Sozialgerichte entscheiden: Allein Ende 2019 waren rund 473.000 Verfahren anhängig.

Politik und Wissenschaft bedienen sich einer Vielzahl von Indikatoren und Kennzahlen, um die Wirkung getroffener Maßnahmen zu messen. Ein Fundament bildet die öffentliche Statistik. Lieferanten dafür sind das Statistische Bundesamt und Behörden aller staatlichen Ebenen. Ergänzt werden die Datensätze von den Analysen der Wirtschafts- und Meinungsforschungsinstitute. Eine wichtige Statistik ist die „Einkommens- und Verbraucherstichprobe“, in der alle fünf Jahre die Einkommens- und Vermögensverhältnisse von rund 60.000 Haushalten erfasst werden. Daraus werden unter anderem die Hartz-IV-Regelsätze ermittelt und die Berichte der Bundesregierung über Armut und Reichtum erstellt.

Socialatlas Infografik: Ob Steuern, Sozialabgaben, Urlaub, Familie oder Krankheit: Auf einer Gehaltsabrechnung lässt sich ablesen, wie vielfältig staatliche und private Daseinsfürsorge ineinandergreifen

Relative Armut im Fokus

Wann Menschen oder Haushalte als arm gelten, darüber gibt es keinen Konsens. Etabliert hat sich aber die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut. Von absoluter Armut wird gesprochen, wenn Menschen grundlegende Dinge zum Überleben fehlen wie ausreichend Nahrung, ein Dach über dem Kopf oder der Zugang zu medizinischer Versorgung. Will Politik aber dafür sorgen, dass es gerecht zugeht und dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, nimmt sie die relative Armut in den Blick: Dabei werden die Einkommen mit Haushalten in der Mitte des Einkommensspektrums verglichen. Nach diesem Konzept gelten diejenigen als arm, deren Lebensstandard zu weit nach unten abweicht.

Freilich können Daten immer unterschiedlich interpretiert und politisch diskutiert werden. Die Rente ist so ein Beispiel: Sowohl die gesetzliche als auch die privaten Rentenversicherungen informieren jährlich, welche Altersbezüge zu erwarten sind. Während die gesetzliche dafür die Inflationsrate einberechnet, beziehen die privaten sie nicht ein.

Gerichtsurteile lösen Reformen aus

Indirekten, aber maßgeblichen Einfluss auf die Sozialpolitik können Entscheidungen der Bundesgerichte nehmen, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts. Ein Beispiel ist das „Sanktionsurteil“ von 2019. Es besagt, dass die Praxis der Sanktionierung durch die Jobcenter nicht verfassungskonform waren und ein völliger Leistungsentzug nicht zulässig war. Seitdem dürfen die Jobcenter Zahlungen zur Grundsicherung nur noch um maximal 30 Prozent und die Kosten der Unterkunft überhaupt nicht kürzen. Zuvor hatte die Republik fast zwei Jahrzehnte lang ergebnislos darüber gestritten.

Woran man sieht: Einmal festgelegte sozialstaatliche Regelungen sind durch Reformen zu ändern. Pfadabhängigkeiten verhindern, dass es zu ständigen Systemwechseln kommt. Das Vertrauen in die Sicherungssysteme bleibt dadurch erhalten und wird gestärkt. Auch die Auswirkungen dieser Gesetze werden immer wieder geprüft. Denn welche Lebensrisiken eine Gesellschaft absichern und welche Mittel sie dafür aufwenden möchte, entscheidet sich in Auseinandersetzungen zwischen Parteien, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen.