Wohlfahrtsmix: Die starken Partner des Staates

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Verbände, Gewerkschaften sowie gemeinnützige Stiftungen und Vereine setzen mit ihren Angeboten Sozialpolitik in die Tat um. Das kooperative Zusammenleben der Gesellschaft wäre ohne diesen „Dritten Sektor“ undenkbar.

Sozialatlas Infografik: Hilfeberechtigte, Leistungserbringer und Kostenträger gehen Verträge miteinander ein, hier am Beispiel der Altenpflege
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Wenn ein Mensch einen rechtlich verbrieften Anspruch auf Sozialleistungen geltend machen will, muss er sich an eine öffentliche Behörde wenden.

Das soziale Miteinander in einer Gesellschaft lässt sich heute nur durch einen ausgewogenen „Wohlfahrtsmix“ organisieren. Der Begriff steht dabei für die Vielfalt der Quellen, aus denen sich Wohlfahrt speist: das Zusammenwirken von Familien, Nachbarschaften, Dienstleistungsmarkt, ehrenamtlichem Engagement, Verbänden und staatlichen Institutionen. Unter dem auch als Wohlfahrtspluralismus genannten Prinzip versteht man also die gebietsübergreifende, sozialpolitische Gestaltung der Gesellschaft im Kleinen wie im Großen.

Entscheidender „Dritter Sektor“

Dabei spielt neben dem Staat, seinem Sozialversicherungssystem und der Wirtschaft die organisierte Zivilgesellschaft, der sogenannte „Dritte Sektor“, eine zentrale Rolle. Zu ihm zählt man die Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, gemeinnützigen Vereine, Stiftungen und andere Non-Profit-Organisationen. Ein Beispiel: In der Kinderbetreuung werden Eltern unterstützt durch die Großeltern und Nachbarn – der informelle Sektor. Zudem werden öffentliche Zuschüsse vom Staat und die Kita einer Kirchengemeinde oder eines freien Trägers genutzt. Zusätzlich wird eine Kinderbetreuung engagiert – eine Dienstleistung des freien Marktes.

Cover Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022 bringt Übersicht in die Komplexität des Sozialsystems, zeigt seine Grundlagen und Perspektiven. So wird sichtbar, dass der soziale Zusammenhalt auf einer Kooperation von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft beruht – und seine Zukunft nur gemeinsam gestaltet werden kann.

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Der Begriff Mix meint aber auch das Mischungsverhältnis zwischen institutionellem und informellem sowie gewinnorientiertem und gemeinwohlbezogenem Handeln. Im Idealfall inspirieren, korrigieren und ergänzen sich die verschiedenen Angebote. In der Praxis gibt es nicht immer einen Vorrang der freien Träger gegenüber den staatlichen. Stattdessen ist das Verhältnis zwischen der freien Wohlfahrtspflege und dem Staat durch ein Geflecht komplexer Kooperationen geprägt. So ergänzen freie Träger die Angebote des Staates und schließen bestehende Angebotslücken durch ihre gemeinnützigen Dienste und Einrichtungen. Verdeutlicht anhand der Kinderbetreuung: Bundesweit besuchen zwei ­Drittel der Kinder eine Tageseinrichtung in freier oder sonstiger Trägerschaft (etwa durch Elterninitiativen oder Betriebe), während rund ein Drittel eine staatliche Einrichtung nutzt.

Der Staat allein kann das Gemeinwohl nicht garantieren

Angesichts des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft und der demografischen Entwicklung ist seit den 1970er-Jahren das Verständnis dafür gewachsen, dass der Staat als zentraler Wohlfahrtsproduzent in seinen Möglichkeiten begrenzt ist. Weder er noch die Sozialversicherungen sind in der Lage, die soziale Fürsorge allein zu ermöglichen und eine gute Lebensqualität für alle Menschen zu schaffen. Das erklärt, warum Wohlfahrtsverbände, gemeinnützige Vereine und andere Non-Profit-Organisationen als Träger von sozialer Sicherheit ein enormes Wachstum erfahren haben, ob in der Zahl der Plätze und Betten sozialer Einrichtungen, bei den Beschäftigten oder in den Umsätzen.

Sozialatlas Infografik: Zahl der Plätze/Betten und Beschäftigte seit 1970
Freie Wohlfahrtspflege bezeichnet die Gesamtheit aller auf freigemeinnütziger Grundlage gewährten sozialen Unterstützungs- und Selbsthilfeleistungen.

Kirchen und Sozialverbände ermöglichen sozialen Zusammenhalt

Führende Anbieter sind sechs Wohlfahrtsverbände. Sie zählen zu den zentralen Partnern des Staates, etwa in der Familienpolitik und Altenpflege. Dazu gehören die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Caritasverband, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz, das Diakonische Werk der Evangelischen ­Kirche in Deutschland und die Zentralwohlfahrtsstelle der ­Juden in Deutschland. Auch andere Sozialverbände oder die Gewerkschaften fördern die soziale Integration, indem sie unterschiedliche Dienstleistungen, etwa im Rechts- oder Verbraucherschutz, anbieten. Die großen Gewerkschaften unterhalten zudem Bildungswerke, über die sie aus- und weiterbilden sowie Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation anbieten.

Ausnahmesituationen wie die Fluchtbewegungen von 2015/2016 oder die jüngste Flutkatastrophe 2021 stärkten die Erkenntnis, dass zivilgesellschaftliche Institutionen oft zielgenauer, schneller und wirkungsvoller ansetzen und handeln können und daher unabdingbar sind. Im Umkehrschluss bedeutet das keineswegs, dass sie die Sozialversicherungen ersetzen können. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, das Miteinander von Staat und Drittem Sektor ausgewogen zu gestalten. Denn der Sozial­staat allein kann den sozialen Zusammenhalt nicht ­ermöglichen.