Im Geiste des Arabischen Frühlings

Laudatio

Die demokratischen Errungenschaften Tunesiens müssen verteidigt werden. Die Anwältin und Aktivistin Yosra Frawes leistet dazu einen unschätzbaren Beitrag, so Dr. Franziska Brantner in ihrer Laudatio auf die Anne-Klein-Frauenpreisträgerin 2022.

Dr. Franziska Brantner, MdB, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz - während ihrer Laudatio für die Anne-Klein-Frauenpreisträgerin 2022, Yosra Frawes

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde,

liebe Mitglieder der Jury,

liebe Barbara Unmüßig und liebe Barbara Binek

liebe Ulrike Cichon,

hochverehrte, liebe Yosra Frawes,

ich möchte Sie alle herzlich begrüßen. Ich freue mich riesig heute Abend hier mit Ihnen gemeinsam zu feiern, und, liebe Yosra, ich fühle mich sehr geehrt, deine Laudatorin sein zu dürfen. Als die Anfrage dafür im Dezember kam, hatte ich gerade eben mein neues Amt als parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz angetreten. Aber ich habe keine Sekunde gezögert zuzusagen, denn es verbinden uns nicht nur das Geburtsjahr, wie wir von Barbara gerade hörten, sondern eben auch emotionale Erinnerungen an die aufregenden Zeiten des arabischen Frühlings. Ich war damals frisch gewähltes Mitglied im Europäischen Parlament und außenpolitische Sprecherin unserer Grünen Fraktion. Doch mein Herz war zu dieser Zeit in Nordafrika, wo so viele mutige Menschen – vor allem Frauen – für Demokratie und Menschenrechte kämpften und dabei – buchstäblich – ihr Leben aufs Spiel setzten. Die vielen Begegnungen mit Aktivist*innen, Politiker*innen und Journalist*innen aus der Region sind mir bis heute Inspiration, Antrieb und Vorbild! 

Liebe Yosra, von Europa aus war Tunesien immer der größte Hoffnungsträger des arabischen Frühlings. Und in der Tat ist es erstaunlich, wieviel ihr in Tunesien in nur einer Dekade erreicht habt. Das betrifft vor allem die Fortschritte in der Gesetzgebung, u.a. zum Schutz von Frauen vor Gewalt und für ihre erfolgreiche Beteiligung in politischen Ämtern. Gleichzeitig müssen wir Europäer*innen uns rückblickend auch eingestehen, dass wir unsere Hoffnungen teilweise auch überprojiziert haben, weil Tunesien in der vergleichenden Perspektive immer der Leuchtturm des arabischen Frühlings blieb. Möglicherweise hat das auch zu Kompromissbereitschaft aufseiten der europäischen Partner gegenüber unzulänglichen Reformbemühungen geführt und zu Toleranz gegenüber allgegenwärtiger Korruption sowie fortlaufenden Verstößen gegen die Einhaltung der tunesischen Verfassung. Aber eines ist mir wichtig: Wenn wir uns heute dennoch dafür einsetzen, dass die demokratischen Errungenschaften jetzt nicht verloren gehen und uns kritisch äußern angesichts des Endes der demokratischen Gewaltenteilung, dann lassen wir uns nicht als Unterstützer der Ennahda und der korrupten Kräfte im Land in Misskredit bringen. Wir weisen diesen populistischen Diskurs entschieden zurück, und unterstützen aus vollem Herzen alle jene Kräfte, die sich nicht auf das Prinzip des „Teile und Herrsche“ einlassen, sondern aufrichtig an einer Korrektur der demokratischen tunesischen Transformation arbeiten und nach Wegen aus der Verfassungskrise suchen. Dazu braucht es einen breit angelegten Dialog, der Reformschritte legitimiert und das Land vor einer „Ein-Mann-Herrschaft“ ohne demokratische Kontrolle und Gewaltenteilung bewahrt. Wir wissen um die Zersplitterung der Zivilgesellschaft und die abwartende Haltung wichtiger Akteure, z.B. des nationalen Gewerkschaftsverbandes, UGTT, und die damit verbundenen Schwierigkeiten dafür ausreichend breite Bündnisse zu schmieden.

Barbara hat angesichts der ungewissen politischen Situation in Tunesien schon von deiner besonderen Rolle und Verantwortung gesprochen, liebe Yosra, denn in den kommenden Monaten werden die Weichen für die Zukunft Eures Landes gestellt! Es ist wichtig, im aktuellen politischen Ringen um die Rahmenbedingungen für die nötige Kurskorrektur in der Lage zu sein, Mitbestimmung und Kontrolle bei der Umsetzung zu organisieren und, wenn es sein muss, auch Widerstand.

Mir ist es ein großes Anliegen, hier heute Abend einen Teil deiner Geschichte zu erzählen, die stellvertretend für viele großartige Tunesierinnen steht, und zugleich deine ganz persönliche ist. Ich werde versuchen nachzuzeichnen, warum du die geworden bist, die du heute bist, und warum ich so sicher bin, dass du genau die auch immer bleiben wirst.

Einen intimeren Blick in deinen persönlichen und politischen Werdegang hat uns deine Kollegin, Freundin und Kampfgefährtin, die Journalistin Khitem Bargaoui gewährt. Khitem ist heute Abend mit dir hier, und so möchte ich mich auf diesem Weg bei ihr persönlich dafür bedanken.

Liebe Yosra, mit deinem gewinnenden Lächeln, deiner Präsenz und deiner tiefen Stimme scharst du einen schier endlosen Kreis von Freundinnen, Freunden und Geistesverwandten um dich. Das ist ein hohes Gut, gerade in diesen schwierigen Tagen des politischen Ringens um die Zukunft Tunesiens. Du kannst zuhören, einordnen, und wichtig ist auch, dass du nicht gerade privilegiert aufgewachsen bist. Deine Mutter hat dich und deine Schwestern abseits der großen Städte in der Nähe von Tunis in einem durchweg patriarchalischen Umfeld überwiegend alleinerziehend großgezogen.

In der Schule verstehst du noch nicht genau, warum die Frauenfrage dich so beschäftigt. Khitem hast du von einem Schlüsselerlebnis in deinem jungen Leben erzählt: Auf dem Schulhof standet ihr in einer Gruppe zusammen, als ein Klassenkamerad erklärte, er sei dagegen, dass Frauen arbeiten. Du hast daraufhin laut dagegengehalten und gerufen: „Frauen haben das gleiche Recht zu arbeiten wie Männer!“ Auf dem Schulhof warst du mit dieser Meinung damals in der Minderheit.

Gleichberechtigung ist für dich nicht nur ein Anliegen, dem du dich seit frühester Jugend verschrieben hast, sondern ein ganzheitliches Konzept, eine Vision, ein Ziel und eine Handlungsmaxime - eine notwendige Voraussetzung für das Wohlergehen einer Gesellschaft. Der Kampf um Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, unabhängig von der geschlechtlichen Identität, wird zu deinem Lebensthema und Grundlage deines politischen Aktivismus. Endgültig entschlossen warst du ab dem Tag, an dem du deiner Mutter Assya versprachst, Rechtsanwältin zu werden und dich als Aktivistin der Association Tunisienne des Femmes Démocrates (ATFD) anzuschließen.

Liebe Gäste, liebes Publikum, im Jahr 2018 übernahm Yosra die Federführung bei der ATFD und amtierte bis Juni 2021 als deren Vorsitzende, bevor sie den Stab an einen neuen Vorstand übergab. Nach Ablauf ihrer Amtszeit als Vorsitzende der ATFD hat sich Yosra Frawes wieder eingereiht in den Kreis der Aktivistinnen aller Altersgruppen, die in den Regionen und Landkreisen tätig sind und deren Freude sie teilt, immer wieder und immer öfter emanzipierten Frauen zu begegnen und sie zu unterstützen.

Neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit als Direktorin des Landesbüros der Internationalen Föderation für Menschenrechte, FIDH, engagiert Yosra sich weiterhin privat, beruflich und in der Öffentlichkeit für echte Gleichberechtigung im Lebensalltag von Frauen. Derzeit leitet sie ein Projekt zur Gleichstellung im Erbrecht in den Maghreb-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien. Ein wagemutiger Kampf in den Gesellschaften dieser drei Länder, in denen die Übertragung von Vermögensanteilen bislang durch diskriminierende Gesetze geregelt ist, die sich auf Religion, Tradition und Scharia berufen. Bereits das Thema ihrer Abschlussarbeit für das Rechtsreferendariat war eine heiße Kartoffel: „Die Ehe im tunesischen Recht, im Spannungsfeld zwischen Vertrag und Institution“. Inmitten einer konservativen Gesellschaft wagt Yosra es, sich für die Anerkennung von nicht verheirateten Paaren und von Alleinerziehenden einzusetzen und für deren rechtliche Gleichstellung mit Verheirateten. Yosra hat früh erkannt, dass die Selbstbestimmung der Frauen in erster Linie eine Frage des gleichberechtigten Zugangs zu wirtschaftlichen Ressourcen ist.

Sie hat darüber hinaus ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass der Kampf des Feminismus und der Kampf für die Rechte von LGBTQI++ in Tunesien zusammengehören. Dafür wird sie von vielen angefeindet. Doch das hält sie nicht davon ab, den Kampf für die Rechte der LGBTQI++ weiter zu unterstützen.

Im Jahr 2017 war sie an der redaktionellen Vorbereitung des ersten umfassenden tunesischen Gesetzes gegen jegliche Art von Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen beteiligt. Ein Gesetz, das von den damals regierenden und mehrheitlich im Parlament vertretenen Islamisten scharf kritisiert wird. Sie ist stolz auf diese Errungenschaft und macht auch keinen Hehl daraus. Es ist ein Gesetz, für dessen konkrete Umsetzung sie in allen Teilen des Landes weiterhin kämpft. Es hat unter anderem Yosras jüngerer Schwester, der langjährigen ATFD-Aktivistin und Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Beity, Wafa Frawes, ermöglicht, gegen die Verletzung ihrer Rechte in den sozialen Medien gerichtlich vorzugehen. Wafa ist eine der ersten Tunesierinnen, die gegen einen ihrer Verfolger Anzeige erstattet hat – gegen einen Mann, der eine Verleumdungskampagne gegen sie auf Facebook führte. Guten Abend, Wafa Frawes, und danke, dass du nicht nur heute Abend an der Seite deiner Schwester bist.

Abschließend möchte ich die tunesische Journalistin und Menschenrechtsverteidigerin Souhayr Belhassen zitieren. Sie ist die ehemalige Vorsitzende und amtierende Ehrenvorsitzende der Fédération Internationale des Droits Humains (FIDH). Sie fasst sehr gut zusammen, wer Yosra ist und warum sie eine Schlüsselfigur für die Menschen- und insbesondere Frauenrechte in Tunesien ist. Sohayr sagte über Yosra: „Sie ist unser aller Stolz! Sie verkörpert die Fortführung unseres Kampfes für die Menschenrechte und vor allem die Frauenrechte in Tunesien und jenseits der Landesgrenzen… mit ihrer umfassenden, im arabischen und frankophonen Kulturkreis erworbenen Bildung und ihrem Charisma wurde sie zu einem Sprachrohr für die Sache der Menschenrechte. Sie hat das Engagement der Jugendlichen entscheidend beeinflusst. Yosra Frawes ist eine Person mit hoher persönlicher Integrität und diplomatischem Geschick, die ihre Überzeugungen und Standpunkte zu vertreten weiß.“

Yosra ist aber nicht nur Anwältin und Aktivistin. Sie ist auch Poetin. Wenn sie dichtet, findet sie Kraft und Inspiration. Und, Träumen auf der einen, Revoltieren und unermüdliches Engagement auf der anderen, sind bei Yosra zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Deshalb möchte ich nochmal betonen, liebe Yosra: Wir unterstützen dich und euch in eurem Kampf um den Erhalt der demokratischen Rechte und Freiheiten, und stehen fest an eurer Seite - gerade jetzt, wo es darum geht, die Weichen für eine demokratische Zukunft Tunesiens zu stellen!

Liebe Yosra, du reihst dich hochverdient ein in den Kreis der großartigen Preisträgerinnen des Anne-Klein-Preises. Von ganzem Herzen meinen Glückwunsch an diesem besonderen Abend!

(es gilt das gesprochene Wort)