Der Ausstieg aus den fossilen Energien – vor Senegal im Meer versenkt?

Kommentar

Die Anstrengungen zum Klimaschutz dürfen aufgrund des Ukrainekriegs nicht reduziert werden – ganz im Gegenteil. Deutschland steht also vor einem Dilemma: Einerseits ist kurzfristig Ersatz für das fehlende russische Gas nötig. Andererseits will man so schnell wie möglich raus aus den fossilen Energien.

Flüssiggas-Tanker
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Flüssigerdgas wird mit einem LNG-Tankschiff transportiert.

Die Deutschen waren etwas spät dran am 9. November 2021. Jochen Flasbarth (SPD), der deutsche Umwelt-Staatssekretär und Chefverhandler bei der Klimakonferenz CO26 in Glasgow, trat vor die Presse und erklärte, Deutschland schließe sich einer 5 Tage zuvor veröffentlichten Erklärung von 28 weiteren Staaten an, die öffentliche Finanzierung von Kohle, Öl und Gas im Ausland bis Ende 2022 zu beenden. Die Erklärung war ein großer Erfolg für die britische Präsidentschaft der COP, aber auch für hunderte von NGO-Vertreter*innen, die seit vielen Jahren auf dieses Ziel hingearbeitet hatten.

Flasbarth war Umwelt-Staatssekretär auf Abruf. Zuhause in Berlin war die Union abgewählt worden, und Vertreter*innen von SPD, Grünen und FDP verhandelten über eine Ampel-Koalition. Der einen knappen Monat später unterzeichnete Koalitionsvertrag enthielt Klauseln über anzustrebende Klimapartnerschaften, schwieg aber über die Vereinbarung von Glasgow. Es hätte sich damals auch kaum jemand vorstellen können, dass die klimapolitisch ambitionierte Koalition sich nicht an sie halten könnte.

Bereits im Klimaabkommen von Paris 2015 war vereinbart worden, Finanzströme mit den Zielen des Abkommens in Einklang zu bringen. Dazu gehört natürlich auch das Ziel, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst sogar 1,5 Grad zu begrenzen. Die Vereinbarung von Glasgow setzte dies nun endlich um, zumindest für den wichtigen Teil der öffentlichen Gelder. Denn zahlreiche wissenschaftliche Studien und die internationale Energieagentur IEA hatten deutlich gemacht, dass der weitere Ausbau fossiler Energien nicht mit den Pariser Klimazielen vereinbar ist.

Ein gutes halbes Jahr später ist Flasbarth Staatssekretär im Entwicklungsministerium. Aus der Ferne muss er die Nachrichten vom Besuch von Bundeskanzler Scholz im Senegal lesen. Mit Senegals Präsident Macky Sall bespricht Scholz eine Zusammenarbeit bei der Erschließung der großen Gasressourcen, die vor der Küste des Landes liegen.

Wird der ein halbes Jahr zuvor beschlossene Ausstieg aus der Finanzierung von Kohle, Öl und Gas kurzerhand entsorgt? Laut Tagesschau „kündigte Scholz eine Korrektur der Politik an,  nicht mehr in fossile Lagerstätten zu investieren. (...)  Scholz nannte als Grund für die Kehrtwende bei der geplanten Einschränkung der Ausbeutung  fossiler Lagerstätten den russischen Angriff auf die Ukraine.“

Scholz verweist auf die „Zeitenwende“. Kein Zweifel, der russische Angriff auf die Ukraine hat vieles verändert. Die „Brücke“ aus (russischem) fossilem Gas, die zwischen Atomausstieg, Kohleausstieg und Ausbau der Erneuerbaren die Lücken füllen sollte, ist eingestürzt – so formulierte es Staatssekretär Patrick Graichen bei der Vorstellung des Klimaberichts 2021 im März dieses Jahres.

Doch der Ukrainekrieg darf kein Anlass sein, unsere Anstrengungen zum Klimaschutz zu reduzieren – im Gegenteil. Deutschland steht also vor einem Dilemma: Einerseits braucht man kurzfristig einen Ersatz für das fehlende russische Gas. Andererseits will man so schnell wie möglich raus aus allen fossilen Energien – nur so können die Klimaziele erreicht werden.

In einem Dilemma kann leicht die Richtung verloren gehen. Daher möchte ich ein paar Orientierungsmarken formulieren:

Erstens: Um vom russischen Gas unabhängig zu werden, müssen die Erhöhung der Energieeffizienz und der Ausbau der Erneuerbaren radikal beschleunigt werden. Die Bundesregierung drückt bei den Erneuerbaren im Osterpaket schon kräftig auf die Tube, Engpässe in Handwerk, Industrie und Arbeitsmarkt zeigen sich. Jetzt gilt es, durch industrie- und arbeitsmarktpolitische Instrumente die Engpässe zu beseitigen, die eine rasche Skalierung von Wärmepumpen und energetischer Sanierung bremsen. Angesichts eines engen Arbeitsmarktes müssen dabei von allen Ressorts Prioritäten gesetzt werden: Auf den Straßen Berlins wird mit großer Plakatierung für Jobs bei der staatlichen Autobahngesellschaft geworben: Sollten solche Kampagnen nicht für Wärmepumpen- oder Solarinstallateur*innen werben?

Zweitens: Die Potentiale des Energiesparens und der Einsparung von Plastik - einem großen Gasverbraucher - sind bei weitem noch nicht ausgereizt. Der Beschluss der Umweltministerkonferenz des Bundesrats zum Tempolimit ist nur ein Beispiel. Eine breit angelegte Energiesparkampagne mit Absenkung der Temperaturen in öffentlichen Gebäuden, verringerter nächtlicher Beleuchtung etc. könnte ein Signal setzen und die Bürger zum Energiesparen animieren. Doch bisher scheint die Bundesregierung uns Bürger*innen in dieser Hinsicht wenig zuzutrauen. Dabei sind dadurch erhebliche Einsparpotentiale zu heben.

Drittens: Internationale Lieferungen von grünem Wasserstoff und seiner Derivate wie grünem Ammoniak werden in den kommenden Jahren erst langsam und dann rasch wachsende Mengen von gasförmigen Energien bereitstellen können. Namibia, Marokko, Saudi-Arabien, Australien und Chile haben in dieser Hinsicht große Ambitionen. Auch dies muss – mit den richtigen Nachhaltigkeitsstandards – Vorrang vor Investitionen in fossiles Gas haben.

Viertens: Die vorhandenen Gaslieferanten können in begrenztem Umfang zusätzliche Mengen liefern. So hat z.B. Norwegen angekündigt, ohne weiteren Ausbau der Infrastrukturen acht Prozent mehr in diesem Jahr zu liefern als im Vorjahr. Die Erschließung neuer Lagerstätten und entsprechender Infrastrukturen ist dagegen mit der Verfolgung eines 1,5-Grad-Ziels nicht vereinbar, ja es müssten sogar bisherige vorzeitig geschlossen werden. So hat es zum Beispiel auch die Internationale Energieagentur (IEA) berechnet. Daher sollte diese Option als allerletztes genutzt werden.

Fünftens: Es werden vielleicht für ein paar Jahre selbst beim ambitionierten Ausbau der 3 ‚E‘ von Einsparung, Erneuerbaren und Effizienz sowie der verstärkten Nutzung von grünem Wasserstoff und bisheriger Importquellen nach dem Wegfall des russischen Gases noch Lücken bleiben. Die wird man eventuell durch neue Importe schließen müssen. Auch da gilt es Prioritäten zu setzen: Welche Importquellen und Lieferverträge eignen sich für einen kurzen Anstieg von wenigen Jahren? Die Finger lassen sollte man von kapitalintensiven Neuerschließungen und von 20jährigen Verträgen mit Abnahmegarantien, wie sie z.B. Katar fordert. Es bleibt zu hoffen, dass Deutschland sich auf solche Knebelverträge nicht einlässt.

Sechstens: Wenn bestimmte Industrien in Europa nur auf der Basis von billigem russischem Pipelinegas wettbewerbsfähig waren, dann sind sie vielleicht nicht zu halten. Denn egal wie der Krieg in der Ukraine ausgeht: Die Zeit billigen russischen Gases ist definitiv vorbei. Statt diese Standorte und Produktionslinien beizubehalten und mit Staatsmitteln dauerhaft zu subventionieren, müssen für sie neue Geschäftsmodelle gefunden werden.

Ohne Zweifel steckt Deutschland in einem schwierigen Dilemma, bei dem es nur mehrere schlechte, aber keine richtig gute Lösung gibt. Um in dieser Situation der Öffentlichkeit die Grundlagen ihrer Abwägungen darzulegen, sollte die Bundesregierung mit Zahlen transparent machen, wie sie den Wegfall russischen Gases und die Einhaltung der Klimaziele über die kommenden Jahre organisieren will. Diese Modellierung sollte die Annahmen der Bundesregierung zu folgenden Fragen offenlegen:

  • wie sich der Energieverbrauch und die stoffliche Nutzung von Gas bis 2045 entwickeln könnte, im Szenario der Einhaltung unserer Klimaziele
  • welche Lücken der Wegfall russischen Gases reißen würde
  • wieviel davon mit einer maximalen Beschleunigung der 3 ‚E‘ abgedeckt werden könnte
  • wieviel man durch höhere Lieferungen bisheriger Lieferanten (Norwegen etc.) und grünen Wasserstoffs glaubt abdecken zu können
  • welche Reservemargen man einplant
  • welche Mengen an LNG man dann glaubt für wie lange von neuen Lieferanten zu benötigen.

Auf einer solchen quantitativen Grundlage ließe sich dann für alle nachvollziehbar diskutieren, wie plausibel die Annahmen sind, welche Abwägungen getroffen wurden und welche Priorisierungen vorgenommen werden sollten.

Ein Über-Bord-Werfen bisheriger internationaler Vereinbarungen zum Ausstieg aus der öffentlichen Finanzierung fossiler Energien mit pauschalem Verweis auf die Zeitenwende ist jedenfalls nicht geeignet, das Vertrauen der internationalen Partner*innen und der deutschen Bürger*innen in die Verlässlichkeit des deutschen Kurses im Klimaschutz zu stärken. Auf Deutschland wird international geschaut, als G7-Präsidentschaft und dank seines oft unverdienten Rufs als Klimaschutzchampion. Daher muss gerade in einer Ausnahmesituation die Ausnahme als solche transparent und nachvollziehbar begründet werden, um die hart errungenen Normen des internationalen Ausstiegs aus fossilen Energieträgern nicht dauerhaft zu beschädigen.