„Genderideologie” – eine Erfolgsgeschichte für die ultrakonservative, extreme Rechte

Hintergrund

Mit seinem Kampf gegen die „Genderideologie“ und die Verteidigung des heteronormativen Familienmodells vereint Bolsonaro die evangelikalen, ultrakonservativen Christen hinter sich und kann auf die Unterstützung der evangelikalen Megakirchen zählen. Eine rechtspopulistische Strategie, die weltweit eingesetzt wird. 

Bolsonaro hält eine Rede

Jair Messias Bolsonaro steht neben einem Auto mit einem Lautsprecher auf dem Dach und verkündet: „Wir sind gegen Abtreibung, die Genderideologie und die Legalisierung von Drogen. Wir verteidigen die brasilianische Familie.“ Neben ihm stehen die selbsternannten Apostel Estevam Hernandes und Bischöfin Sônia Hernandes. Führungspersönlichkeiten der neupfingstkirchlichen Evangelikalen Renascer em Cristo, die in der Vergangenheit bei dem Versuch festgenommen wurden, mit nicht deklarierten und in einer Bibel versteckten Geldsummen von über 50.000 Dollar in die USA einzureisen. Die Rede des amtierenden Präsidenten während des Marsches für Jesus in São Paulo im Juli 2022 - kurz vor den wohl wichtigsten Wahlen der brasilianischen Geschichte - an seine treuste Basis: evangelikale, ultrakonservative Christen.

Wie eine gehisste Flagge aus dem Wahlkampf von 2018 trägt Bolsonaro diese Themen vor sich her, mit besonderem Schwerpunkt auf dem Kampf gegen die „Genderideologie“ und die Verteidigung des heteronormativen Familienmodells. Er hat damit ein Novum in der brasilianischen Geschichte erreicht: Die Wahlunterstützung der Mehrheit der Führungspersonen der evangelikalen Megakirchen. Nie zuvor hat ein Kandidat es geschafft, die Zustimmung so vieler mächtiger religiöser Führungspersonen auf sich zu vereinen. Auch nach dreieinhalb Jahren Regierung hält diese Unterstützung an und schließt einige Steuererleichterungen, Schuldenerlasse, Medienkonzessionen und Privilegien der drei Sphären der Staatsgewalt für die Kirchen mit ein. Und das, obwohl die Zustimmungswerte in der evangelikalen Basis laut jüngsten Wahlumfragen sinken.

Bolsonaro streute nach Bekanntgabe seiner Präsidentschaftskandidatur für die Partido Liberal, wieder einmal eine Reihe von Fake News, in diesem Fall über Senator Renan Calheiros (der Partei Movimento Democrático Brasileiro-Alagoas): „abgesehen davon, dass er 2019 die Heteronormativität dekonstruieren wollte, gründete er die sogenannte Genderideologie. Damit sollen unsere Kinder und Enkelkinder ab fünf Jahren in der Schule behelligt und zu Sex angeregt werden.“ Den Rat, sich bei jeder neuen politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Krise „national-populistischen“ Ideen zuzuwenden erhielt Bolsonaro bereits 2018 von Donald Trumps strategischen Berater Steve Bannon. Dieser Rat wird vom amtierenden Präsidenten und seiner Regierung aufs Genauste befolgt.

So genau, dass er in einer Situation, in der Brasilien eine jährliche Inflation von fast 12% verzeichnet, mit mindestens 33 Mio. Menschen ohne ausreichenden Zugang zu Lebensmitteln (und damit wieder auf der Welthungerkarte der UN verzeichnet ist) und nach einem desaströsen Management der Pandemie mehr als 670.000 Todesopfer zu betrauern hat, denselben Diskurs wiederholt, der ihm den Einzug in den Präsidentenpalast ermöglicht hatte. Von seiner Amtsantrittsrede bis hin zu flammenden Botschaften von Rednerpulten in Kirchen und Lautsprecheransagen aus Autos zieht sich ein angebliches „Ringen des Guten gegen das Böse“ und der Kampf gegen die „Genderideologie“ – ein fantasiereiches und formbares Narrativ, was in den 1990er Jahren von der katholischen Kirche erfunden und aufgebaut wurde. In den letzten Jahren wurde dieses Narrativ von Politiker/innen der extremen Rechten, Evangelikalen und Ultrakonservativen in ganz Lateinamerika, den USA und einigen europäischen Ländern aufgegriffen wurde. Begründet durch die Förderung der sexuellen und reproduktiven Rechte und ihrer Einbettung durch die UNO, wurde dieses Syntagma zu einer effizienten politischen Strategie der moralischen Panikmache. Sie basiert auf der Idee, dass die Behandlung von Genderfragen im Schulunterricht eine Bedrohung für die Familien und die Kinder darstellen würde. So definierte der Wissenschaftler Prof. Marco Aurélio Prado in einem Interview mit dem Portal für Investigativjournalismus Agência Pública im Dezember 2021: „Die ‚Genderideologie‘ erweist sich als Syntagma – das heißt, sie bringt nichts mit nichts zusammen, ihr Sinn ist inhaltslos und daher kann ich alles was ich möchte dort hineinbringen: Kommunismus, Homosexualität, Pädophilie. Jedwedes konservative Gedankengut passt in das Syntagma ‚Genderideologie‘ hinein, weil sie undefiniert ist. Sie ist eine Fantasiewelt, in der es keine Gedanken, Reflexionen, keinen Kontext, keine Geschichte oder Debatte gibt.“

Davon abgesehen, dass sie die LGBTQ-Phobie befeuert, die Genderungerechtigkeit und den strukturellen Machismo vertieft, ist die „Genderideologie“ zu einer Erfolgsgeschichte für die ultrakonservative extreme Rechte geworden, weil sie die durch Falschinformationen provozierte Moralisierung der Unsicherheit für sich nutzt. Genderidentität, reproduktive Rechte, sexuelle Orientierung – all diese Themen sind komplex, aber auch strukturgebend und daher besonders anfällig für Manipulation, wenn man sich nicht auf qualifizierte Art und Weise mit ihnen auseinandersetzt. Die Unsicherheit wird zur Angst, die Angst wiederum zur moralischen Panik. Die Instrumentalisierung dieser moralischen Panik spielt eine Schlüsselrolle bei der Einschränkung der Demokratie und dem Aufstieg von autoritären und rechtsextremen Führungsfiguren auf der ganzen Welt.

Der Umgang mit Kindern und in den Schulen

Es muss betont werden, dass die durch die Ultrakonservativen „geschützten“ Kinder in der Regel weiß, christlich oder noch ungeboren sind. Wird ein Kind hingegen aufgrund einer Vergewaltigung schwanger – und die Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder sind in Brasilien sehr hoch – dann ist sein Leben weniger wert als das des Embryos in seiner Gebärmutter. Das wurde während der Amtszeit der Bolsonaro-Regierung wiederholt durch emblematische Fälle bestätigt, bei denen Mädchen verfolgt und zur Schau gestellt wurden und ihnen das gesetzlich zustehende Recht auf Abtreibung verwehrt wurde. Indigenen Kindern schenkt die aktuelle Regierung insbesondere durch das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte durchaus ihre Aufmerksamkeit, allerdings aus einer fast fetischistischen, neokolonialistischen Perspektive. Schwarze Kinder, die verhungern oder Opfer von Polizeigewalt werden, begegnet sie hingegen mit Gleichgültigkeit. Dieser willkürliche Schutz ist ebenfalls Ausdruck von strukturellem Rassismus.

Seit 2014 wird durch die Fraktion der Evangelikalen im Kongress ein wahrer Kreuzzug geführt, um die Behandlung von Genderthemen in den Schulen zu verbieten und Lehrer/innen zu verfolgen. In den Lehrplänen des gesamten Landes wurde das Wort „gênero“ (Dt.: Gender) ganz einfach aus den Texten entfernt – selbst in einer völlig bedeutungsfremden Verwendung des Wortes, wie in „gênero alimentício“ (Dt.: Nahrungsmittel), wurde es eliminiert. Ein kürzlich von Human Rights Watch veröffentlichter Bericht zeigte auf, dass auf Ebene des Bundes, der Bundesstaaten und der Gemeinden mehr als 200 Gesetzesvorschläge vorgelegt wurden, um die „Indoktrination“ oder die „Genderideologie“ an den Schulen zu verbieten. Die Bewegung „Escola sem Partido“ (Dt.: Schule ohne Partei) stellte auf ihrer Internetseite sogar eine Mustervorlage ein, um Lehrer/innen zu verklagen und zu kriminalisieren. Ebenso wurde „Genderideologie“ als eine mögliche Gewalttat bei der Notrufnummer gegen Menschenrechtsverstöße „Disque 100“ des Ministeriums für Frauen, Familie und Menschenrechte hinzugefügt - neben Vergehen aufgrund der sexuellen Orientierung. Abgesehen davon, dass die über dieses Medium gemeldeten Daten zu homophoben Gewaltvorfällen durcheinandergebracht werden - die durch das Oberste Bundesgericht bereits juristisch anerkannt wurden - schafft diese Maßnahme auch einen staatlichen Weg, um Lehrer/innen einzuschüchtern und zu kriminalisieren.

In Lateinamerika hat die Kampagne „Con mis hijos no te metas“ (Dt.: Leg dich nicht mit meinen Kindern an.) großen Zuwachs verzeichnet. Sie ist vergleichbar mit der Organisation „Escola sem Partido“ in Brasilien, ist jedoch um einiges größer und transnational aufgestellt. In anderen Teilen der Welt, wie in Ungarn, wird der Studiengang Genderstudies an den Universitäten verboten.

Fake News, Desinformation und soziale Netzwerke

All diese Kampagnen zur moralischen Panikmache profitieren von der Geschwindigkeit, mit der sich Fake News in den sozialen Netzwerken verbreiten. Während des Wahlkampfes von 2018 wurde beispielsweise ein Video auf Facebook veröffentlicht, um den Wahlkampf von Fernando Haddad als Präsidentschaftskandidat zu demoralisieren. Es zeigte ein Babyfläschchen mit einem Sauger in Form eines Penis und behauptete, dass solche Fläschchen von der PT in den brasilianischen Kinderkrippen verteilt worden wären, um Homophobie zu bekämpfen. Das Video wurde bereits in den ersten beiden Tagen drei Millionen Mal angeschaut. Auch wenn die Partei erklärt, dass es sich um Fake News handelte, erfüllte das Video durch die massenweise Verbreitung per WhatsApp und anderen sozialen Medien dennoch den von den Ultrarechten gewünschten Effekt.

Die Studie „Wege der Desinformation: Evangelikale, Fake News und WhatsApp in Brasilien“ der Bundesuniversität von Rio de Janeiro kommt zu dem Ergebnis, dass die intensive Nutzung von WhatsApp in der religiösen Praxis, Netzwerke der Desinformation unter evangelikalen Gläubigen verstärkt. Die Studie zeigte auf, dass 49% der evangelikalen Studienteilnehmer/innen in religionsbezogenen Gruppen Nachrichten mit falschen oder irreführenden Inhalten erhielten. Das bedeutet, dass praktisch die Hälfte der interviewten Evangelikalen Fake News erhielten, die in Gruppen ihrer Glaubensgemeinschaften verbreitet wurden. Über das Ausmaß der Verwendung von WhatsApp im Speziellen stellt die Studie fest, dass 92% der Evangelikalen religionsbezogene Gruppen über WhatsApp nutzen. Dies gilt, im Vergleich, für 71% der Katholik/innen, 57% der Spiritist/innen[1] und 66,7% der befragten Anhänger/innen anderer Religionen. Bei einem Interview mit Agência Pública erklärte der Studienleiter Alexandre Brasil, Soziologe und Direktor des NUTES Institut für Bildung in Wissenschaft und Gesundheit der Bundesuniversität von Rio de Janeiro: „Es ist nicht die Religion, die für das stärkere Auftreten von Desinformation in den WhatsApp-Gruppen der Evangelikalen sorgt, es sind Elemente, die mit der Religionspraxis zu tun haben, wie die Verwendung von sozialen Netzwerken.“ Ein weiteres der durch die Forscher/innen festgestellten Elemente ist das zwischenmenschliche Vertrauen. Für 33,3% der interviewten Evangelikalen sind Bekannte eine wichtigere Informationsquelle als journalistische Medien und/oder Online-Recherchen. 13,2% gaben an, dass die Pastor/innen und Glaubensbrüder/Glaubensschwestern der Kirche für sie die vertrauenswürdigste Nachrichtenquelle seien. „Es darf nicht vergessen werden, dass dort, wo Informationen zirkulieren, auch immer Desinformationen zirkulieren. Diesen Fluss von separat zirkulierenden Nachrichten wird man nicht vermeiden können, denn die Absicht ist, dass sie den Anschein einer zuverlässigen Information wecken. Eine intensive Nutzung von WhatsApp gepaart mit einem sehr starken zwischenmenschlichen Vertrauen sind Faktoren, die die Evangelikalen auf einer gewissen Ebene besonders anfällig für Desinformation machen“, erläutert Alexandre Brasil weiter.

Hinzu kommt, dass die Evangelikalen laut der brasilianischen Wahlstudie ESEB von 2018 mit 31% einen großen Anteil an der brasilianischen Bevölkerung diese Glaubensrichtung haben.

Von den bei der Studie befragten Menschen antworteten 23,6% der evangelikalen Gläubigen, dass sie nicht die Angewohnheit hätten, die Nachrichten zu verfolgen. Des Weiteren gaben fast 30% von ihnen an, dass sie bereits Fake News geteilt hätten, 8,1% sogar „in dem Wissen, dass es sich um Lügen handelte, aber weil sie mit der Sichtweise einverstanden waren.“

Die Entdemokratisierung als Ziel

Eine von Jamil Chade für UOL Nachrichten erstellte und im Juli veröffentlichte Reportage macht deutlich, dass die brasilianischen Wahlen im Oktober auch die ultrakonservativen Bewegungen und Parteien im Ausland mobilisiert. Das zeigt die Relevanz des Landes für die Projekte der extremen Rechten. „Für diese Gruppen steht nicht die Zukunft eines Präsidenten auf dem Spiel. Es geht um die internationale Kraft der Bewegung, die heute Brasilien als eine ihrer wichtigsten Plattformen nutzt, um sicherzustellen, dass ihre Forderungen in der internationalen Agenda vertreten werden“, schreibt Jamil Chade. Denn: „Die extreme Rechte hat in Lateinamerika an Kraft verloren, sie hat in den USA eine Niederlage erlitten und sie erlebt in Europa einen Moment der strategischen Neuaufstellung. Jair Bolsonaro (PL) repräsentiert also die Möglichkeit für die Bewegung, ihren Einfluss in internationalen Foren beizubehalten, auf unterschiedlichen Ebenen Lobbyarbeit zu betreiben und die Fortschritte der progressiven Agenda auszubremsen.“

Das ist für ein Land, was sich unter denen mit den höchsten Raten für genderbasierte Gewalt, Femizide, Morde an Transmenschen, Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern, Todesfälle aufgrund von unsicheren Abtreibungsmethoden und soziale Ungleichheit befindet, besonders gravierend. Die Forscherin Flávia Birolli, Universität von Brasília, schreibt dazu in dem Artikel „die Reaktion gegen Gender und Demokratie“ für die Zeitschrift Nueva Sociedad, dass diese Themen schwache Demokratien im Visier haben, zur Entdemokratisierung der Länder beitragen und die Institutionen schwächen, die aufgebaut wurden, um Verstöße gegen die Menschenrechte zu bekämpfen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Kandidat/innen der Opposition in Bezug auf diese Agenda positionieren und ob sie den Mut haben werden, sich diesen Fragen ein für alle Mal zu stellen.

Aus dem Portugiesischen von Kirsten Grunert.

 

[1] A.d.R.: Spiritist/innen sind die Anhänger/innen der religiösen Philosophie von Alan Kardec. Spiritistische Tempel oder spiritistische Zentren haben sich in Brasilien stark ausgebreitet. Sie gehören zu einem anderen Zweig, ganz anders als die Evangelikalen oder die Katholik/innen. Sie glauben an Geister und daran, dass die Evolution auf die Erde kommt sowie an die Reinkarnation als eine Form der "spirituellen Evolution".