Influencer*innen und die brasilianische Ultrarechte

Analyse

Die wachsende Popularität des Internets und der sozialen Netzwerke hat im Laufe der letzten zehn Jahre auch die Verbreitung von Ideen in der brasilianischen Öffentlichkeit radikal verändert. Seither müssen sich Journalist*innen, Intellektuelle und Prominente ihren Platz mit alternativen Medien, Youtuber*innen und Influencer*innen teilen.

Hände halten Würfel mit Logos verschiedener sozialer Medien

Rechte Influencer*innen haben den Kampf um die Aufmerksamkeit gewonnen: Die brasilianische Öffentlichkeit misstraut den Mainstream-Medien und wird gleichzeitig von einem Tsnunami an Informationen aus dem Internet überflutet. Die Strategie der sogenannten Schockpolitik der Kommunikation ist aufgegangen.

Schockpolitik ist eine von marginalisierten Gruppen sowohl aus dem linken als auch aus dem rechten Spektrum in der öffentlichen Debatte verwendete Strategie, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Beispiel auf Seiten der Linken waren die „Schlampenmärsche“ („Marchas das Vadias“), bei denen die Teilnehmer*innen innerhalb und außerhalb Brasiliens versuchten durch öffentliches Entblößen ihrer Brüste Aufmerksamkeit auf ihre Forderungen zu lenken. Auf Seiten der Rechten hat sich die Verwendung einer aggressiven, von Schimpfwörtern, beißendem Humor und „politischer Unkorrektheit“ geprägten Rhetorik eingebürgert.

Begründet wird die Anwendung dieser Strategie damit, dass es unmöglich sei auf andere Weise Aufmerksamkeit zu erlangen. Herkömmliche Medien und die Politik würden die Ziele und Forderungen derer, die mit Skandal-Nachrichten Schockpolitik betreiben, generell missachten, herabwürdigen und gar verspotten.

In Brasilien wurde seit ca. 2005 (im Zuge des Mensalão-Skandals) eine öffentliche Debatte über die Rechte von Frauen, Schwarzen und LGBTQ* geführt. Vor allem das traditionell konservative Brasilien fühlte sich in seinen Positionen plötzlich marginalisiert. Die Gruppen, die sich durch diese Debatte an den Rand gedrängt fühlten, begannen ihnen zugewandte Influencer*innen und Politiker*innen für ihre Interessen zu nutzen. Die verlorene Macht sollte mit Kampagnen vor allem in den sozialen Medien zurückgeholt werden. Der extremistische Abgeordnete Jair Bolsonaro stieg zum Hauptanführer der brasilianischen Rechten auf, da er die Weltsicht der rechten Gruppen wiederspiegelte.

„Bolsonaro Zuero“ und „Bolsonaro Opressor 2.0“ beflügelten den zukünftigen Präsidenten

Durch auf ihn zugeschnittene Profile wie „Bolsonaro Zuero“ - ein 2013 erstelltes Satire-Konto, das vorgibt Bolsonaro zu sein - oder „Bolsonaro Opressor 2.0“, erstellt 2015, wurde Bolsonaro im Internet populär. Diese Seiten sind mit beißender Satire, Schimpfwörtern und aggressiver Kritik an politischen Gegner*innen und Minderheiten in Form von Memes durchsetzt. Darüber hinaus verbreiteten sie Bolsonaros umstrittenste Reden, aber auch alltägliche Bilder. Sogar der Beiname „Mythos“, der für Bolsonaro bei seinen Unterstützer*innen populär wurde, geht auf die von dem Konto „Bolsonaro Zuero“ geposteten Videos zurück, in denen Bolsonaro bei polemischen und skandalösen Äußerungen eine Sonnenbrille trug. Als Belohnung wurden die für den Inhalt verantwortlichen jungen Männer alsbald Teil des Kommunikationsteams des damaligen Abgeordneten, der 2015 seine Kandidatur für das Präsidentenamt der Republik einreichte.

Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen lag Bolsonaro 2017 bei der Anzahl seiner Follower*innen und Reaktionen auf Facebook, der Anzahl der Tweets auf Twitter und der Anzahl der Likes auf Instagram bereits weit vorne. Zum Vergleich: Bolsonaro hatte damals 4,7 Millionen Follower*innen und 3,2 Millionen Reaktionen auf Facebook, während Lula, der frühere Präsident der Arbeiterpartei PT, mit 3 Millionen Follower*innen und 1 Million Reaktionen nur den zweiten Platz belegte.

Die Anhänger*innen Bolsonaros, die diese Inhalte einstellten, präsentierten sich als Ausgegrenzte und Vertreter*innen des Anti-Establishments. Sie sind der Ansicht, dass das Establishment von einer „linken Hegemonie“ unterwandert und ihre Weltanschauung und Lebensweise unmittelbar bedroht sei. Einfache Sprache wird eingesetzt, um darauf hinzuweisen, dass es notwendig sei sich jenseits der traditionellen „linken“ Presse zu informieren. Die Verbreitung von scheinbar journalistischen Inhalten und sensationslüsternen Schlagzeilen hat zugenommen. Die Nachfrage an solchen Inhalten wird konstant durch Werbung und Merchandising sowie der Möglichkeit von Geldsendungen während live übertragener Veranstaltungen gesteigert. Daran verdienen die Influencer*innen.

Abgestimmte Verbreitung von antidemokratischen Gedankengut und Falschinformationen

Nach dem Amtsantritt von Bolsonaro als Präsident des Landes im Januar 2019 hat sich diese Desinformationsdynamik und der Konsum der Inhalte weiter verstetigt. Im Unterschied zu vorher erfolgten die Aktionen (wie z.B. die Verbreitung des Narratives, dass die elektronischen Wahlurnen nicht sicher seien) nun mehr oder weniger abgestimmt zwischen Regierungsmitgliedern und Influencer*innen. Dadurch wurden zu sehr komplexen Themen einförmige Narrative konstruiert und demokratische Institutionen direkt angegriffen ohne das die Drahtzieher hinter diesen Falschmeldungen sanktioniert wurden.  

Zusammen agierten zum Beispiel der ehemalige Kulturministers Roberto Alvim, der Abgeordnete Daniel Silveira und mehrerer Influencer*innen – allesamt Anhänger*innen Bolsonaros. Alvim wurde wegen einer Rede (im Januar 2020) mit Nazi-Bezug des Amtes enthoben. Silveira wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er ein YouTube-Video veröffentlicht hatte, in dem er den Obersten Gerichtshof beschimpft, Richter*innen mit Gewalt gedroht und Maßnahmen der Militärdiktatur gelobt hatte. Influencer*innen, gegen die im Rahmen derselben Fake-News-Untersuchung ermittelt wurde, mussten nach Gerichtsbeschlüssen die Videos auf ihren YouTube-Kanälen löschen.

Die direkte oder indirekte Wirkung der Schließungen auf die Verbreitung von antidemokratischem Gedankengut und Falschinformationen oder gar auf die Anzahl von Influencer*innen und Produzent*innen von Inhalten ist fraglich. Da die Überprüfung der Inhalte langwierig ist, sind Inhalte bereits tausende Male geteilt worden, ehe sie gelöscht werden. Darüber hinaus kennen die Influencer*innen die Regeln und löschen oder ändern ihre Beiträge schon selbst. Wohlwissend, dass diese Inhalte von den Tausenden von Menschen, die sie gleichzeitig erreichen, flugs gespeichert und später auf unterschiedliche Art und Weise reproduziert werden können. Ein in der Zwischenzeit ergangenes Verbot verliert damit seine Wirkung.

In den Räume, in denen solche Inhalte verbreitet werden, wird abgestimmt agiert. Die Anthropologin Letícia Cesarino weist auf die Existenz einer Dynamik in Brasilien hin, die auch in Ländern wie Deutschland funktioniert. Geschlossene Gruppen (in dem Sinne, dass sie keinen Dialog mit anderen Gruppen führen) im Netz (z.B. auf Telegram) begeben sich auf eine Linie mit Influencer*innen auf öffentlichen Plattformen oder in herkömmlichen Medien und tauschen Informationen aus. Sie schaffen dadurch ein Netzwerk, dass Inhalte verbreitet, die alle dieselben Quellen haben. Die Anhänger*innen Bolsonaros schaffen durch diese Vernetzung eine einheitliche Erzählung mit der sie bestimmte Ideen zielgruppengenau mit den passenden Influencer*innen implizit verbreiten können. Beispiele für diese Zielgruppen sind konservative Christen, antifeministische Gruppen, Teile der Armee und der Polizei, Arbeiter*innen und Unternehmer*innen der Agrarindustrie, Künstler*innen im Landesinneren, Gamer*innen, Befürworter*innen von Kryptowährungen oder Finanzfachleute aus der Mittel- und Oberschicht. Dadurch können z.B.  Impfgegner*innen wie Ärzt*innen, die die Verwendung von Covid-19-Impfstoffen ablehnen und in geschlossenen Gruppen gefeiert werden, auch von Journalist*innen oder regierungsnahen herkömmlichen Medien interviewt werden oder in professionellen Produktionen erscheinen, deren Inhalte über Abonnements zugänglich sind.

Durch das dynamische Teilen bestimmter Inhalte und Verschwörungstheorien, die beispielsweise Wut oder Angst hervorrufen, werden die Algorithmen genährt. Das Publikum dieser Influencer*innen vergrößert sich dadurch und ist zahlreicher, als der Teil der brasilianischen Bevölkerung, der Jair Bolsonaro tatsächlich unterstützt. Es ist angesichts dieses Szenarios keine Seltenheit, dass nach einer stärkeren Einschränkung, Kontrolle und damit verbundenen Reinigung der öffentlichen Debatte dessen, was an Inhalten in der Öffentlichkeit zirkuliert, gefordert wird.

Es geht um Geld

Einer Untersuchung von Novelo Data nach sind seit Januar 2022 aus Furcht vor nachteiligen rechtlichen oder wirtschaftlichen Konsequenzen mehr als 10.000 Videos aus den 450 größten Pro-Bolsonaro-Kanälen entfernt worden. In einigen Fällen überstiegen die damit eingeworbenen Beträge mehrere hunderttausend Real. Zwischen Januar 2019 und August 2021 haben elf Pro-Bolsonaro-Kanäle auf YouTube, die Falschinformationen über elektronische Wahlurnen verbreiteten, mehr als zehn Millionen Real eingenommen. Die Kanäle, die vor ihrer gerichtlich angeordneten Sperrung die größten Gewinne erzielten, waren Folha Política mit 2,5 Millionen Real und der des Youtubers Allan dos Santos mit 1,7 Millionen Real.

Der Fall Allan dos Santos

Einer der jüngsten Fälle von in Desinformationsskandale verwickelten Influencer*innen ist der des Bloggers Allan dos Santos. Gegen den Eigentümer der Website Terça Livre sind 2022 beim Obersten Gerichtshof zwei Ermittlungsverfahren anhängig. Ein Verfahren ermittelt in der Sache der Finanzierung von Fake News Verbreitung während der Pandemie durch Influencer*innen und Regierungsangehörige. Beide Gruppen sollen an der massenhaften Verbreitung von Fake News über COVID-19, Impfstoffe und die Pandemie beteiligt gewesen sein.

Das zweite Verfahren ermittelt in der Sache der Finanzierung antidemokratischer Handlungen, die seit April 2020 von Verbündeten des Präsidenten gefördert worden sein sollen. Allan dos Santos, einer der engsten Verbündeten der Familie Bolsonaro, kam im Oktober 2021 auf Anordnung des Ministers Alexandre de Moraes in Untersuchungshaft.


Übersetzung aus dem Portugiesischen von Barbara Leß-Correia Mesquita.