Fraktion der Federkronen gegen den Klimanotstand

Analyse

Indigene Interessen wurden in Brasiliens Politik lange weitgehend ignoriert. Das soll sich nun ändern. Bei den Wahlen sind so viele Indigene in den brasilianischen Kongress eingezogen, wie nie zuvor.

Von Links nach Rechts: Célia Xakriabá, Sônia Guajajara, Luiz Inácio da Silva und Joênia Wapichana auf der COP27 in Ägypten.
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Von Links nach Rechts: Célia Xakriabá, Sônia Guajajara, Luiz Inácio da Silva und Joênia Wapichana auf der COP27 in Ägypten.

Sônia Guajajara trägt fürs Interview große, rote Ohrringe aus kleinen Perlen und eine passende Kette. Aber auch die gut gewählten Accessoires können ihre Müdigkeit nicht überdecken. „Es war ein harter Kampf, diesen Platz der Macht zu besetzen”, sagt sie. Die 48-jährige Guajajara ist eine der bekanntesten, indigenen Aktivistinnen in Brasilien. Bei den Wahlen Anfang Oktober wurde sie im Bundestaat São Paulo in den brasilianischen Nationalkongress gewählt. Sie ist eine von fünf Indigenen, die nun im Parlament vertreten sind. „Wir haben es endlich geschafft, den Rassismus der Abwesenheit zu durchbrechen”, sagt Guajajara. Damit meint sie, dass nun zum ersten Mal mehrere Indigene vereint für die Anliegen der Völker und der Natur in die brasilianische Bundespolitik eingezogen sind.

Fünf Indigene im Kongress mag nicht viel erscheinen, aber es sind mehr als je zuvor. Indigene waren in der Vergangenheit in Brasiliens Parlamenten stark unterrepräsentiert. 1983 hatte Brasilien mit Mario Juruna seinen ersten indigenen Vertreter auf nationaler Ebene. Danach vergingen 35 Jahre bis erst 2018 mit Joênia Wapichana die erste indigene Frau in den Kongress gewählt wurde.

Die Gründe dafür sind strukturell. Leonardo Barros Soares, Politikprofessor an der Bundesuniversität von Viçosa, sieht strukturellen und historischen Rassismus als einen der Hauptgründe für die geringe Repräsentation: „Jedes Volk, das Völkermord, Zwangsassimilierung, Vergewaltigung und andere Misshandlungen erlebt hat, tut sich schwer damit, sich zu organisieren und politische Ämter zu übernehmen”, sagt er. Die Interessen von Indigenen haben unter anderem in Folge der mangelnden Repräsentation in der brasilianischen Politik bisher kaum eine Rolle gespielt. Zuletzt hatte sich ihre Lage aber sogar verschlechtert.

Illegaler Bergbau und Landraub

Kleiner Rückblick: In den vergangenen vier Jahren wurde das größte Land Lateinamerikas vom rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro regiert. Der machte international vor allem durch die Abholzung des Amazonas und durch seine Hetze gegen Minderheiten auf sich aufmerksam. Auch die indigenen Völker Brasiliens litten sehr darunter. Bolsonaro hatte schon im Wahlkampf gesagt, dass er „keinen Millimeter” indigenes Land mehr auszeichnen würde. Dieses Versprechen hielt er: Während seiner Amtszeit wurde keine indigenen Schutzgebiete ausgezeichnet. Aber nicht nur das: Bolsonaro unterstützte illegalen Bergbau sowie Landraub und schwächte Brasiliens Umweltschutzinstitutionen.

Das alles führte dazu, dass Brasiliens Indigene vor den Wahlen beschlossen, dass sich etwas ändern musste. Obwohl sie sich schon seit Jahrzehnten politisch einbrachten, organisierte die Vereinigung der indigenen Völker Brasilien APIB erst in diesem Jahr eine Kampagne unter dem Motto „aldeiar a política", was so viel bedeutet, wie die Politik zu „indigenisieren”. Sie hatte zum Ziel möglichst viele Vertreter*innen in politische Ämter zu bringen. Infolgedessen stieg die Zahl der Kandidat*innen aus diesem Teil der Bevölkerung sprunghaft an. Laut einer Studie des Instituts für sozioökonomische Studien (Inesc) ist die Zahl der indigenen Kandidaturen im Vergleich zu den Wahlen 2018 um 32 % gestiegen.

„Die Bewegungen haben eine zunehmende Invasion ihrer Gebiete beobachtet”, analysiert Carmela Zigoni, politische Beraterin des Inesc. „Weil sie gesehen haben, dass im Kongress Entscheidungen getroffen werden, die sich negativ auf indigene Völker auswirkten, kamen sie zum Schluss, dass es strategisch wichtig ist, auch diesen politischen Raum zu besetzen”. Obwohl die Zahl der Kandidat*innen gestiegen ist, findet Zigoni, dass noch immer zu wenige Indigene gewählt wurden. Als möglichen Grund dafür sieht sie die fehlende Unterstützung dieser Kandidaturen durch politische Parteien. Bei den diesjährigen Wahlen erhielten beispielsweise 38 indigene Kandidat*innen keine Wahlkampfgelder von ihren Parteien.

Keine zweite Amtszeit

Aber nicht nur das Ringen um Repräsentation und Sichtbarkeit macht den Indigenen zu schaffen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wurden viele Verbündete des derzeitigen Präsident Jair Bolsonaro in den Kongress gewählt. Seine Anhänger*innen sind aktuell die stärkste Fraktion darin. Viele von ihnen sind Anhänger*innen von Brasiliens mächtiger Agrar-Lobby, die für industrielle Landwirtschaft steht und die Rechte von Indigenen immer wieder mit Füßen tritt. Bolsonaro selbst war hingegen nicht so erfolgreich wie viele seiner Anhänger*innen. Er verpasste bei der Präsidentschaftswahl im Oktober knapp den Sieg und damit eine zweite Amtszeit. Ab Januar wird Brasilien vom ehemaligen und nun auch zukünftigen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva regiert. Der will eine politische Kehrtwende einleiten. Auf der COP27 in Ägypten sagte der frisch gewählte Lula, dass er Klimaschutz und die Anliegen von Indigenen in Zukunft zur Priorität machen wolle. Er versprach in seiner Rede unter anderem, Umweltverbrechen zu bekämpfen und die Abholzung der Wälder auf null zu reduzieren.

Nicht nur ein Großteil der Weltgemeinschaft, sondern auch die indigenen Bewegungen in Brasilien freuen sich über den Sieg von Lula. Während seiner Wahlkampagne hatte der versprochen, ein Ministerium einzurichten, das sich ausschließlich mit Interessen der indigenen Völker des Landes befasst. Aktuell wird gemutmaßt, dass Joênia Wapichana dieses Amt übernehmen könnte. Wellthon Rafael Aguiar Leal, Aktivist für indigene Rechte aus dem Bundestaat Roraima, ist erleichtert über Lulas Sieg. Er erklärt aber auch, dass das keine bedingungslose Unterstützung bedeute. „Die indigene Bewegung hat immer für ihre Interessen gekämpft, egal ob der Präsident Lula, Dilma oder Bolsonaro hieß”, argumentiert er. „Unsere Agenda wird immer die heutige Welt und die Logik des Kapitalismus in Frage stellen”.

Diese Interessen werden in Zukunft zumindest ein bisschen mehr Gehör finden: Neben Sônia Guajajara sitzt jetzt auch die 32-jährige Célia Xakriabá aus dem Bundestaat Minas Gerais im Nationalkongress. Schon im Wahlkampf hatten die beiden Frauen gemeinsam dafür geworben eine „Fraktion der Federkrone” (Bancada de Cocar) im Kongress zu bilden, die indigene Interessen stärker in den Vordergrund rückt. „Unsere Wahl ist eine Antwort auf den Klimanotstand und die Krise, in der sich unser Planet befindet”, sagt Xakriabá.

Das gesamte System revolutionieren

Zwischen den überwiegend weißen, älteren und männlichen Politiker*innen Brasiliens stechen die beiden Frauen, die oft mit traditioneller Kleidung, Gesichtsbemalung und auch ihren Federkronen auftreten, schon optisch hervor. Dieser Kontrast symbolisiert gut, was die indigenen Frauen in Brasilien vorhaben, nämlich nicht weniger als das gesamte System zu revolutionieren. „Wir Indigenen sind die Lösung, um die Klimakrise aufzuhalten”, sagt Xakriabá. Weltweit bewahren indigene Völker rund 80 Prozent der Biodiversität, in Brasilien ist der Regenwald in ihren Schutzgebieten deutlich intakter als in anderen Regionen. Die Fraktion der Federkrone kämpft darum als erstes dafür, weitere indigenen Schutzgebiete auszuzeichnen. Außerdem setzen sie sich für nachhaltige, familiäre Landwirtschaft und gegen invasiven Bergbau ein. Für Xakriabá ist es auch wichtig mehr auf Minderheiten, Frauen und junge Menschen im Land zu hören. Nur so könnten Verbesserungen für alle erreicht werden.

Sowohl Guajajara als auch Xakriabá wissen, dass ihre Stimmen im Kongress im Zweifelsfall nur wenig gegen die übermächtigen politischen Gegner*innen ausrichten können. Trotzdem sind sie optimistisch, dass es in den kommenden Jahren für Indigene in Brasilien wieder bergauf gehen könnte. Denn sie würden nicht allein für die Veränderung kämpfen, an ihren Seiten stünden auch die Kräfte ihrer Vorfahren und Ahnen, so Xakriabá. „Wir tun unser Besten für den Planeten und für die gesamte Menschheit”, fügt sie hinzu.


Zum Weiterschauen:

Joênia Wapichana und Sônia Guajajara nahmen in 2021 an den von der Heinrich-Böll-Stiftung mitorganisierten digitalen Berliner Brasilien-Dialogen teil. Die Veranstaltungsmitschnitte im O-Ton sind hier zu finden:

Berliner Brasiliendialog #4 „Umwelt: grenzenlose Zerstörung“ mit Joênia Wapichana und u.a. mit Dr. Imme Scholz, aktuelle Vorständin der Heinrich-Böll-Stiftung.

Berliner Brasiliendialog #7 „Menschenrechte unter Beschuss: Herausforderungen und Perspektiven“.