„Poesie ist kein Klassenprivileg”

Interview

Sharon Dodua Otoo hat in dem Buch „Gesammeltes Schweigen“ neue Perspektiven auf Leben und Werk von Heinrich Böll eröffnet. Im Interview ergründet die Schriftstellerin nun die berühmt gewordene Nobelpreis-Vorlesung, die Heinrich Böll vor fünfzig Jahren verfasste. Ein Gespräch über die Möglichkeit von Sprache, Poesie und anderen Wirklichkeiten – jenseits herrschender Vernunft.

Porträt von Sharon Otoo

Heinrich Böll ist der erste deutsche Literaturnobelpreisträger nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Kölner Schriftsteller erhält im Herbst 1972 die Ehrung „für ein Werk, das einen für seine Zeit erforderlichen Weitblick mit der Sensibilität der schöpferischen Kraft vereint und das der deutschen Literatur neue Impulse gegeben hat", wie die Schwedische Akademie erklärt. Zu diesem Zeitpunkt lastet ein schwieriges Jahr auf seinen Schultern. Böll wird wegen seiner politischen Positionen angegriffen und von Medien verleumderisch in die Nähe der Terrornetzwerks RAF gerückt. Trotz aller Anfeindungen blitzt in seiner Nobelvorlesung „Versuch über die Vernunft der Poesie“ eine Verteidigung des Menschlichen hervor, die selbst im Räderwerk kalt rechnender Logik und Ökonomie die Würde nicht zu verlieren vermag. 1972, im Jahr der Vergabe des Literaturnobelpreises an Böll, kommt Sharon Dodua Otoo in London zur Welt. 2016 erhält die deutsch-britische Schriftstellerin den Ingeborg-Bachmann-Preis für ihre Erzählung „Herr Gröttrup setzt sich hin“. 2021 erscheint ihr gefeierter Debütroman „Adas Raum“, der in mehrere Sprachen übersetzt wird. In der Publikation „Gesammeltes Schweigen” geht sie 2022 auf Heinrich Bölls Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ ein – und erweitert sie um eine Sammlung aus eigenen Texten, Zitaten und Stimmen. Für ihre literarischen und politischen Interventionen wird sie im November 2022 mit dem Berliner Verdienstorden ausgezeichnet. Otoo und Böll eint ein sozial waches Schreiben, das zu aktuellen Fragen Position bezieht.

Frau Otoo, wann haben Sie das erste Mal von Heinrich Böll gehört?

Ich habe in London angefangen, Deutsch zu lernen, als ich 13 Jahre alt war. Im Deutschunterricht haben wir irgendwann kürzere Texte gelesen: Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke. Solche Texte eignen sich gut für Leute, die gerade anfangen, sich mit der deutschen Sprache auseinanderzusetzen. So habe ich sämtliche Autoren – männlich, selbstverständlich – kennengelernt. Dürrenmatt, Frisch, Brecht und auch Böll.

Im Buch „Gesammeltes Schweigen“ schreiben Sie, dass Sie in Bölls Werk die Verbindung zwischen Gesellschaftskritik und Humor schätzen.

 In gewisser Weise trifft das auf alle vier Schriftsteller zu. Heinrich Böll aber blieb mir am besten in Erinnerung. Gerade wegen seiner Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Ich kann mich genau daran erinnern, wie es mir ging, als ich diese Erzählung gelesen habe.

Wie war Ihr erster Eindruck?

 Es ist so, dass meine persönlichen Assoziationen mit Deutschland positiv waren: Wirtschaftswunder, Pünktlichkeit, Ordnung, Mülltrennung. Humor gehörte nicht unbedingt dazu. Die Satire von Böll hat meinen Blick auf deutsche Geschichte und die deutsche Gesellschaft erweitert. Toll fand ich auch damals, dass keine Figur in der Kurzgeschichte gut wegkam. Ich muss aber gestehen, dass ich mich damals als Leserin allgemein gezwungen sah, viele Rassismen zu „überlesen” oder zu verdrängen. Während meiner Schulzeit gab es einige Bücher mit rassistischem Vokabular. Für mich gehörte das halt dazu. Erst später, als ich mich mehr mit Rassismus in der Literatur auseinandergesetzt habe, konnte ich diese ambivalente Lektüre umdeuten. Sie sagt ja viel mehr über die Schreibenden aus als über die Beschriebenen. Im Zuge einer Anfrage haben mich die Herausgeber*innen des Buches „Gesammeltes Schweigen” gebeten, einen Text zu Bölls Kurzgeschichte zu schreiben. Ich habe sie erneut gelesen …

Hielt der Autor Heinrich Böll der erneuten Lektüre stand? 

Ja. Toni Morrison, die erste weibliche Schwarze Literaturnobelpreisträgerin, bezeichnete in ihrem Buch „Im Dunkeln spielen” folgendes Phänomen als Afrikanismus: weiße Menschen benutzen Schwarze Figuren oder Bezüge zu dem Kontinent Afrika, um Überlegenheit zu konstruieren und zu zeigen, was weiße Menschen nicht sind. Schwarze Figuren werden –  mit wenigen Ausnahmen – als fremd und andersartig beschrieben, ausgeblendet oder kommen nur in einer passiven Rolle vor. Wir sehen diese Figur zum Beispiel in „Die Physiker” von Friedrich Dürrenmatt oder in der Kurzgeschichte „Die Probe” von Herbert Malecha. Heinrich Böll brauchte solche Figuren nicht, um über gewaltsame Kontinuitäten im Nachkriegsdeutschland zu schreiben. Das hat mich begeistert! 

In seiner Nobelvorlesung 1972 wehrt sich Heinrich Böll gegen eine rationalisierende Vernunft, die sich aufs Berechnen und Beherrschen versteigert. Welche Aspekte haben Sie angesprochen?

Ich höre die Stimme eines Intellektuellen, der darauf hinweist, dass es Sachen gibt, er nennt es „Zwischenraum”, die nicht zu Ende erklärt werden können. Das hat mich beeindruckt. Es gibt weder das einzelne Genie, das alles vermitteln kann, noch ist es möglich, alles zu erfassen, was an einem Prozess mitwirkt. Es bleibt immer etwas Geheimnisvolles.

Für Böll ist „Schreiben eine Bewegung nach vorn, [...] von etwas weg, zu etwas hin“, dass er nicht kennt.

Ja, und wir Schriftsteller*innen versuchen, in diese geheimnisvolle Lücke vorzudringen, neue Assoziationen frei zu legen. Eine Arbeit, die laut Böll nie abgeschlossen ist – und sein kann. Das gefällt mir, diese Idee: Ja, wir sind auf der Suche, vielleicht gemeinsam auf der Suche.

An anderer Stelle spricht Böll von der „Möglichkeit der Versetzung“, die Literatur böte, etwa „in eine andere Klasse, andere Zeit, andere Religion“. Mit dem Ziel: Fremdheit nicht zu schaffen, sondern aufzuheben.

Hier bin ich skeptisch, ob das so einfach möglich ist. Ich glaube, wir alle fangen irgendwo an. Und wir fangen an mit unseren Vorlieben, Ängsten, unserer Sozialisation. In dem Moment, in dem wir schreiben, imaginieren wir meist die eigene Identität in andere Figuren hinein. Davor sollten wir genau die eigene Position reflektieren und uns damit auseinandersetzen, was es überhaupt bedeutet, „Ich“ zu sein. Wie kann zum Beispiel ein kritischer Umgang mit Weißsein aussehen, was ist männlich? Am Ende finde ich den Ort entscheidend, von dem aus ich schreibe.

Das erinnert an eine Aussage der interdisziplinären Künstlerin, Autorin und Philosophin Grada Kilomba: „Wir alle sprechen aus einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort, aus einer Geschichte und einer Realität heraus – es gibt keine neutralen Diskurse."

Ja, genau! Wie Grada Kilomba empfinde ich, dass es keine neutrale Position gibt. Menschen, die behaupten, sie seien neutral und frei, sind wahrscheinlich am meisten eingeschränkt. Das ist meine Behauptung. Eine andere Frage, die Grada Kilomba gestellt hat, war auch besonders wichtig für mich: Wessen Wissen zählt als Wissen? Literatur von deutschen oder deutschsprachigen Schriftstellern waren oft Verhandlungen darüber, was es bedeutet, ein weißer Mann zu sein. Andere Leute kamen hinzu, haben auch Romane geschrieben und ihre Identitäten behandelt. Aber weil es nicht um weiße Männer ging, wurde ihre Arbeit als etwas Partikuläres angesehen. Über so viele Schriftstellerinnen, die geschrieben haben, wurde so abschätzig berichtet, wie die Autorin Nicole Seifert in ihrem Buch „Frauenliteratur“ hervorragend nachgezeichnet hat. Das reicht bis in die Gegenwart hinein. Das sehen wir zum Beispiel bei Mithu Sanyal. Mit „Identitti“ hat sie einen Roman geschrieben, der sich um eine Figur mit polnisch-indischer Abstammung dreht, aber ansonsten oberflächlich wenig mit der Autorin zu tun hat. Trotzdem wird sie ständig gefragt, ob ihr Roman lediglich autobiografisch zu lesen ist. Das finde ich respektlos.

Autobiografische Elemente einzuarbeiten ist eine Seite. Ist Schreiben jenseits der eigenen Biografie möglich?

Ja, ich denke, grundsätzlich schon. Wenn ich allerdings nicht die nötigen Hausaufgaben mache, dann schreibe ich immer nur über mich selbst und reproduziere Vorurteile. Deshalb kommt schreibenden Personen eine hohe Verantwortung zu. Autor*innen haben die Fähigkeit, sich Begebenheiten oder Lebensweisen vorzustellen, die sie nicht aus eigener Erfahrung kennen; sie können das Fremde vertraut machen und das Bekannte mystifizieren, wie es Toni Morrison formulierte. Nichtsdestotrotz gibt es für mich einen Unterschied zwischen Menschen, die privilegiert sind in einer Gesellschaft und Menschen, die marginalisiert sind. In der Regel kriegen privilegierte Personen selten mit, wie die Wirklichkeit aussieht.

Woran liegt das für Sie?

Ich glaube, Menschen, die marginalisiert werden, können ihre Vorstellungswelt nicht so einfach aus Zeitungen, Reportagen, Filmen beziehen. Dort werden oftmals Imaginationen von anderen privilegierten Personen dargestellt. Marginalisierte Personen wissen das allzu gut. Sie kriegen ständig aufs Brot geschmiert, was die Privilegierten denken und fühlen und für wichtig erachten. Deshalb haben sie meist ihre eigene Erfahrung entwickelt, auf die sie sich stützen. Sie haben einen doppelten Blick auf die Gesellschaft, der dominanten Gruppe und der eigenen Lebenswirklichkeit. Der Historiker und Soziologe W. E. B. Du Bois nannte es „double consciousness". Deshalb finde ich es gut, dass Böll in der Nobelvorlesung versucht hat, den Blick für mehrere Wirklichkeiten zu öffnen, indem er betonte: Poesie ist kein Klassenprivileg, sie ist nie eins gewesen. Für mich stimmt das: Poesie ist kein Klassenprivileg.

Heinrich Böll kritisiert auch, dass die abendländische Vorstellung von Vernunft andere Poetiken und Zugänge zu Wirklichkeiten unterdrückt. „Uns, die wir so leicht demütigen, fehlt etwas: Demut, die nicht zu verwechseln ist mit Unterordnung, Gehorsam oder gar Unterwerfung. Das haben wir mit den kolonisierten Völkern gemacht: ihre Demut, die Poesie dieser Demut in Demütigung verwandelt.“

Ein starker Satz, er macht etwas mit mir. Allerdings muss ich das für mich übersetzen, weil er nur zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten trennt. Die Frage ist hier, wen meint er mit uns? Böll positioniert sich und gleichzeitig richtet er sich an ein weißes Publikum. Denn bis dahin wurde keine Schwarze Person mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Ich lese also diesen Satz und denke: Ja, das stimmt. Gleichzeitig fühle ich mich in einem Zwischenraum. Ich bin Nachfahrin von kolonisierten Menschen. Auf der anderen Seite lebe ich aber im Westen – und profitiere daher auch von Kolonialismus. Ich habe beides. Und deswegen ist dieser Satz für mich gut und unzulänglich zugleich.

Wo verwandelt sich für Sie heutzutage Demut in Demütigung?

Das fängt bei dem gedankenlosen Gebrauch von Sprache an. Dieser Haltung, wie sie die deutsche Dichterin May Ayim sie in ihrem Gedicht „künstlerische freiheit“ beschreibt: Alle Worte in den Mund nehmen und sie überall fallen lassen, ganz gleich, wen es trifft. Insbesondere die Bereiche Cancel Culture, Political Correctness und diskriminierungsfreie Sprache bergen heutzutage viel Raum für Demütigungen. Viele Menschen wollen die Deutungshoheit behalten, über das, was gut und richtig ist. Da haben Menschen, die marginalisiert sind und weiterhin marginalisiert werden, bitte leise zu sein.

Für Böll war Gesellschaftskritik vor allem Sprachkritik. Schreibende Personen sollten die Würde des Menschen verteidigen. Im Wort.

 Ja, und ich habe das Gefühl, dass viele Menschen, die sich heute mit Sprachkritik auseinandersetzen, sehr festgelegt sind, dass Sprache etwas Hermetisches ist. Abgeschlossen. Ein Wort kann nur das eine bedeuten und nichts anderes bezeichnen. Sich nicht mehr verändern. Das ist gar nicht mein Verständnis von Sprache. Das hat viel mit meiner eigenen Sozialisation zu tun. Ich selbst habe angefangen, Englisch zu sprechen – und dann die Sprache wieder vergessen ...

Vergessen?

Ich bin in England aufgewachsen. Meine Eltern haben Englisch mit mir gesprochen. Mit dreieinhalb Jahren bin ich nach Ghana gezogen, habe anderthalb Jahre dort gelebt und bin zur Schule gegangen. In Ghana habe ich nur Ga geredet – und Englisch wieder vergessen. Als ich mit fünf Jahren wieder zurückkam, konnte ich kein Wort mehr. Schon früh hatte ich also das Gefühl: Nichts hat Bestand. Alles kann sich radikal ändern, auch die Sprache. Als ich wiederum angefangen habe, Deutsch zu lernen, habe ich mich lange mit den drei bestimmten Artikeln auseinandergesetzt. Der, die, das. Es erschien mir willkürlich. Für mich ist Sprache einfach ein Mittel zum Zweck. Und solange man mich einigermaßen versteht, ist doch alles gut. Es muss nicht grammatikalisch abgeschlossen und komplett nachvollziehbar sein. Viel schwingt in der Körpersprache mit, wie meine Stimmung ist, mein Gesichtsausdruck. Emotionale Zustände sind eine Form von Kommunikation. Sie zu lesen bedarf auch einer Form von Expertise, wie ich finde.

Heinrich Böll schließt in der Nobelvorlesung mit der Passage ab: „Die Vernunft, auf die wir gebaut haben, hat uns die Welt nicht vertrauter gemacht.” Ein Hinweis auf eine schleichende Entfremdung, die Böll auch in seinem literarischen Spätwerk thematisierte. Brauchen wir mehr Wissen oder mehr Empfindsamkeit?

Oder vielleicht die Anerkennung, dass Empfindsamkeit auch eine Form des Wissens ist?

Vielen Dank für das Gespräch.