Guatemala: Gegen den „Pakt der Korrupten“ und für Arévalo als neuen Präsidenten

Analyse

Bernardo Arévalo hat die Stichwahlen am 20. August für das Präsidentenamt gewonnen. Die guatemaltekischen Wähler*innen feiern den Sozialdemokraten und seine junge Partei Semilla als lauten Protest gegen die schamlose Vereinnahmung demokratischer Institutionen durch die korrupten Eliten.

Guatemala: Feiernde Menschenmassen auf der Straße mit Plakaten und zahlreichen guatemaltekischenFlaggen
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Jubelnde Guatemaltek*innen feiern am 20. August den Sieg von Bernardo Arévalo und Karin Herrera in Guatemala Stadt.

Trotz zahlreicher Versuche des sogenannten „Paktes der Korrupten“ um den amtierenden Präsidenten Alejandro Giammattei, den Überraschungssieger des ersten Wahlgangs in Komplizenschaft mit käuflichen Richter*innen vor der Stichwahl aus dem Rennen zu werfen, konnten Bernardo Arévalo und das Movimiento Semilla am vergangenen Sonntag einen historischen Sieg verbuchen. Der Sozialdemokrat setzte sich am 20. August klar mit 58 Prozent der Wähler*innenstimmen durch. Arévalo ist promovierter Soziologe und Sohn des ersten demokratischen Präsidenten Guatemalas Juan José Arévalo, der zwischen 1945 und 1951 das Land regierte.

Im ersten Wahlgang am 25. Juni überraschte Arévalos zweiter Platz die traditionellen Eliten des Landes. Diese hatten eigentlich vor dem ersten Wahlgang mithilfe der kooptierten Justiz systematisch dafür gesorgt, das alle Oppositionskandidat*innen aus dem Weg geräumt wurden, die die ungehemmte Verteilung von Pfründen aus der Staatskasse und das Buddy-System bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen in Frage stellten. Arévalo, der 2019 als Abgeordneter ins Parlament eingezogen war, erreichte den ersten Wahlgang nur deshalb, weil dem Kandidaten der Partei Movimiento Semilla keinerlei ernsthafte Chancen eingeräumt wurden. „Ein Fehler in der Matrix“, so der guatemaltekische Verfassungsrechtsexperte Edgar Ortiz Romero und eine strategische Fehlentscheidung des Establishments. Der bis dahin nahezu unbekannte Arévalo war schlichtweg übersehen worden. In dem unübersichtlichen, zersplitterten Parteienspektrum hatte sich der regierende Machtblock nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten geeinigt. Viele Wähler*innen gaben aus Protest gegen die Manipulation der Wahlen ungültige oder leere Stimmzettel ab. Das führte dazu, dass Arévalo im ersten Wahlgang am 25. Juni mit knapp zwölf Prozent der Stimmen der Einzug in die Stichwahl gelang.

Wählerstimmen im Kampf gegen das korrupte Justizsystem

In den Wochen nach dem 25. Juni entwickelte sich ein beispielloser Wahlkrimi, gespeist von Panikreaktionen der herrschenden Eliten. Diese versuchten die „Panne“ bis zur entscheidenden Stichwahl am 20. August noch auf „juristischem Wege“ zu „reparieren“. Der Versuch, den lästigen Kandidaten, der den Status quo der Verteilungskoalition gefährden könnte, durch den Vorwurf der Wahlfälschung auszuschalten, scheiterte kläglich. Im nächsten Anlauf aktivierte der „Pakt der Korrupten“ dann die käuflichen Freunde im Justizsystem mit dem Ziel, die Rechtspersönlichkeit des Movimiento Semilla aufzuheben. Angeblich habe es Unregelmäßigkeiten bei der Registrierung der Partei gegeben. Obwohl die guatemaltekische Wahlgesetzgebung derartige Untersuchungen in laufenden Wahlprozessen eindeutig verbietet, ordnete der zuständige Richter Rafael Curruchiche sofortige Hausdurchsuchungen beim Wähler*innenregister der Obersten Wahlbehörde (TSE) und in der Parteizentrale des Movimiento Semilla an.

Gründungsmitgliedern der Partei des Präsidentschaftskandidaten drohte er mit Verhaftung. Proteste der Richter*innen der TSE konnten dieses illegale Vorgehen nicht verhindern. Noch vor dem ersten Wahlgang hatte die TSE der willkürlichen Eliminierung von Kandidaturen nichts entgegengesetzt. Vor der Stichwahl verteidigte dieses Gremium nun endlich den demokratischen Wahlprozess und die Souveränität des Wähler*innenwillens. Nur nach wachsenden massiven nationalen und internationalen Protesten, insbesondere auch seitens der USA, und der Verabschiedung einer einstweiligen Verfügung des Verfassungsgerichtes zugunsten von Semilla konnten die Stichwahlen schließlich am 20. August stattfinden.

Wahlsieg über den „Pakt der Korrupten“ auch in den Departements

Im Gegensatz zum erbärmlichen Theater der herrschenden Machtgruppen zwischen den beiden Wahlgängen bewies die guatemaltekische Wählerschaft am 20. August bemerkenswerte staatsbürgerliche Reife. Die Stichwahl konnte ohne nennenswerte Zwischenfälle durchgeführt werden, die Auszählung der Stimmen war professionell organisiert und erfolgte rasch. Bereits weniger als drei Stunden nach der Schließung der Wahllokale lag das vorläufige Ergebnis vor. “Die Bürger*innen von Guatemala zeigten eine starke Verantwortung für die Demokratie, trotz der kontinuierlichen juristischen Aktionen, die den Wahlprozess störten“, sagte Jordi Cañas, der Chef der Wahlbeobachtungskommission der Europäischen Union auf der Pressekonferenz, auf der er den vorläufigen Bericht über die Rechtmäßigkeit des Wahlprozesses vorstellte.

Im Gegensatz zum ersten Wahlgang waren die Prognosen der Meinungsumfragen diesmal verlässlich. Wie erwartet, konnte sich Bernardo Arévalo im zweiten Wahlgang mit deutlichem Abstand von 21 Prozent zu seiner Konkurrentin durchsetzen. Seine Partei Semilla ging 2015 aus den Protesten gegen die Korruptionsskandale unter der Regierung Otto Pérez Molina hervor und ist vor allem bei jungen Wähler*innen in städtischen Wahlbezirken populär. In der Hauptstadt konnte Arévalo fast 80 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Die Partei des zukünftigen Präsidenten hatte nach dem zweiten Wahlgang auch um die Stimmen der indigenen Bevölkerung geworben und erzielte sehr gute Ergebnisse in fünf Departements mit einem hohen Anteil von Frauen und Maya-Bevölkerung.

Der Gegenkandidatin Sandra Torres und ihrer Partei UNE (Unidad Nacional de Esperanza) gelang es lediglich in fünf, hauptsächlich ländlichen, Departements im Norden des Landes eine höhere Stimmzahl als ihr politischer Rivale zu erreichen. Arévalo hingegen erzielte in 17 der insgesamt 22 Departements bessere Ergebnisse als die Konkurrentin. Trotz der Unterstützung von Torres durch die Regierungspartei Vamos und der massiven – und illegalen - Verteilung von Wahlgeschenken (Essenspakete und Zinkplatten für ärmliche Behausungen), die durch Recherchen der Nachrichtenplattform Quorum ans Licht kamen, setzte sich der Trend des ersten Wahlganges fort: Der deutliche Verlust der ehemaligen Stammwähler*innenschaft auf dem Land. So schrumpfte die Fraktion der UNE im Parlament von 52 auf 28 Abgeordnete. Statt bisher 106 kontrolliert die UNE ab 2024 nur noch 38 der insgesamt 340 Bürgermeister*innenämter.

Vor 25 Jahren begann Sandra Torres ihre politische Karriere mit einer sozialdemokratischen Agenda. Aus wahltaktischen Gründen machte sie im Wahlkampf 2023 einen strammen Rechtsruck, verbündete sich mit evangelikalen Predigern und verunglimpfte ihre Gegner in einer beispiellosen Hasskampagne. Die Taktik ging nicht auf. Im Gegenteil: Von einer beträchtlichen Anzahl der Wähler*innen wurde Torres als Fortsetzung des „Paktes der Korrupten“ wahrgenommen. Die guatemaltekischen Wähler*innen wollten keine Almosen, keinen Assistenzialismus, sondern einen demokratischen Wandel. Im ersten Wahlgang hatte ein Viertel der Wähler*innen ihren Protest noch durch ungültige und leere Stimmzettel ausgedrückt. Arévalo gelang es, Teile dieser Protestwähler*innen im zweiten Wahlgang für sich zu gewinnen. Die Anzahl leerer oder ungültiger Wahlzettel sank bei der Stichwahl auf knapp unter 5 Prozent. Mehr als die Hälfte (55 Prozent) der knapp 9,4 Millionen Wahlberechtigten blieben jedoch den Urnen im zweiten Wahlgang fern.

Die Angriffe gegen seine Kandidatur vereinen die Opposition für Arévalo

Die Versuche des Establishments, Arévalo mittels des Missbrauchs legaler Instrumente aus dem Rennen zu werfen und durch aggressive Desinformationskampagnen zu schädigen, bewirkten das genaue Gegenteil. Der zuvor wenig bekannte Kandidat und seine junge Partei erhielten kostenlose Publicity und wurden schlagartig bekannt. Die ansonsten chronisch zerstrittene Opposition zeigte ungewöhnliche Geschlossenheit und einigte sich auf das gemeinsame Ziel, die Souveränität des Wähler*innenwillens zu verteidigen. Mit der Heftigkeit der Angriffe auf den Kandidaten Arévalo und angesichts des auch für guatemaltekische Verhältnisse schmutzigen Wahlkampfes, wuchs bei zahlreichen Wähler*innen die Überzeugung, dass diese Attacken ein verlässlicher Indikator für die Ernsthaftigkeit der Reformabsichten von Arévalo seien. Dies trug dazu bei, dass das Movimiento Semilla im zweiten Wahlgang einen Großteil der Protestwähler*innenschaft an sich binden konnte. Der schwindende Einfluss traditioneller Medien, Kritik an dem Monopol der Gruppe Alba Vision bei den Fernseh- und Radiosendern bei gleichzeitig wachsender Bedeutung sozialer Netzwerke als alternative Informationsquelle stärkten die Opposition.

2023 haben mehr als 60 Prozent aller Guatemaltek*innen Zugang zum Internet, 80 Prozent nutzen es regelmäßig als Informationsquelle. Semilla gelang es, seine mehrheitlich junge Wählerschaft vor allem über tik tok zu erreichen. Ältere Wähler*innen erinnerten sich hingegen an das positive Legat der Amtszeit von Arévalo Senior, die mit einem demokratischen Aufbruch verbunden wird, der Einführung des Sozialversicherungssystems und der Stärkung der Presse- und Meinungsfreiheit. Bernardo Arévalo betonte, dass er nicht sein Vater sei, jedoch den damals eingeschlagenen Weg der demokratischen Erneuerung wiederaufnehmen werde. Das Bild des „zweiten demokratischen Frühlings“, das das Movimiento Semilla in der Wahlkampagne verwendete, verband die Hoffnungen verschiedener Generationen von Guatemaltek*innen.

"Die Institutionen müssen diesen Korrupten entrissen werden"

“Guatemala verdient einen neuen demokratischen Frühling“, sagte Arévalo in der Nacht seines Wahlsieges. Hierfür „müssen jedoch erst die Institutionen diesen Korrupten entrissen werden.“ Auch die Einstellung der politischen Verfolgung von Antikorruptionsermittler*innen, Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen zählt zu seinen Prioritäten. Das sind keine einfachen Aufgaben, wenn man bedenkt, dass der „Pakt der Korrupten“ – trotz des Verlusts der Präsidentschaft – über eine starke Kontrolle des Parlaments und der kommunalen Ebene verfügt. Trotz der mangelnden Popularität des scheidenden Präsidenten Giammattei ist seine Partei Vamos mit 39 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Parlament, gefolgt von Sandra Torres Partei UNE mit 28 Sitzen. Mit 23 Abgeordneten stellt das Movimiento Semilla lediglich die drittstärkste Fraktion im 160 Sitze umfassenden Parlament. Noch schlechter sieht die Machtverteilung auf kommunaler Ebene aus, wo Semilla lediglich ein Bürgermeister*innenamt von 340 stellt. Vamos kontrolliert aufgrund einer erfolgreichen Kooptationsstrategie mittels der großzügigen Verteilung staatlicher Gelder für soziale Hilfsprogramme und Infrastrukturmaßnahmen zu Wahlkampfzwecken nun 139 Gemeinden. Besorgniserregend ist ferner, dass sich in den Drogenkorridoren der Grenzregionen und an den Küsten vielfach Kandidat*innen des sog. „aufstrebenden Kapitals“, ein Euphemismus für die Drogenkartelle, durchsetzen.

Es zeigen sich zwar erste Risse in der kooptierten Justiz und einige Richter*innen, insbesondere des Obersten Wahlgerichtes, scheren inzwischen aus den kooptierten Strukturen aus und urteilen unvoreingenommen. Doch dieser Trend erfasst nicht alle Instanzen. Die Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit unter Vorsitz des skrupellosen Richters Curruchiche besteht hartnäckig darauf, das Strafverfahren gegen das Movimiento Semilla wegen angeblicher Verfahrensfehler bei der Einschreibung der Partei weiter zu verfolgen. Die Staatsanwaltschaft hat auch angekündigt, ein Strafverfahren gegen den Vorsitzenden des Wählerregisters einzuleiten. Das ist als klarer Rachefeldzug gegen die Richter*innen des Obersten Wahlgerichts, die die Integrität des Wahlprozesses verteidigt hatten, einzuordnen.

Am Vorabend des Wahltages hatten zwei Mitglieder des Obersten Wahlgerichts bekannt gegeben, bedroht worden zu sein und über Rücktritt nachzudenken. Justo Pérez, der Wahlkampfmanager Arévalos, äußerte gegenüber der Nachrichtenplattform El Faro die Sorge, dass die Wahlergebnisse erneut mittels juristischer Tricks in Frage gestellt werden könnten. Dennoch ist der Politikwissenschaftler Luis Fernando Mack der Ansicht, dass der gefährlichste Moment bereits überstanden sei. Es sei zwar davon auszugehen, dass der „Pakt der Korrupten“ weiterhin in die Trickkiste (straf)rechtlicher Instrumente greife, um die Wahlergebnisse in Frage zu stellen, die Machtübernahme Arévalos am 14. Januar 2024 ließe sich hierdurch jedoch nicht mehr verhindern. Zumindest nicht, solange der internationale Druck hoch bleibe und die Bereitschaft, der Bürger*innen stark, die Souveränität des Wähler*innenwillens – notfalls auch auf der Straße - zu verteidigen. US-Außenminister Blinken hatte bereits zwischen beiden Wahlgängen mit ungewöhnlich starken Worten klargemacht, dass die Infragestellung der Souveränität des Wähler*innenwillens „schwerwiegende Folgen“ in den bilateralen Beziehungen nach sich ziehen würde. Die Nachricht des wichtigsten Handelspartners kam bei den Unternehmer*innenverbänden an, die sich, um ihre Exportchancen nicht zu gefährden, ohne Ausnahme für die Anerkennung der Wahlergebnisse aussprachen.

Aufgrund der fehlenden Mehrheiten auf parlamentarischer und auf der Gemeindeebene ist der neu gewählte Präsident darauf angewiesen, Allianzen innerhalb und außerhalb des Kongresses aufzubauen, ohne jedoch seine Glaubwürdigkeit durch faule Abkommen mit den korrupten Eliten aufs Spiel zu setzen. Dies bedarf eines realistischen Erwartungsmanagements, um Enttäuschungen der Anhängerschaft vorzubeugen und der Entwicklung von mittelfristigen Reformstrategien, die über die Amtszeit von vier Jahren hinausgehen. Und klarer internationaler Unterstützung, um die kriminelle Energie des „Paktes der Korrupten“ einzudämmen.

 

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