50 Jahre Putsch in Chile: Die Narben sind sichtbar

Analyse

Der 50. Jahrestag des Putsches in Chile fällt in eine Zeit, in der positive Bezüge zur Pinochet-Diktatur wieder salonfähig sind. Ein gesellschaftlich geteilter Erinnerungsdiskurs über die Gräueltaten der Diktatur fehlt.

Eine Gruppe von Menschen steht vor einem großen, weißen Haus mit chilenischer Flagge. Sie halten Porträts von Menschen in die Luft, auf dem Boden stehen Bilder von einem Holzkreuz.

Im September jährt sich zum 50. Mal der Golpe Militar, der Putsch in Chile. Am 11.09.1973 begann mit einer gewaltvollen Machtergreifung die Militärdiktatur Augusto Pinochets. Die Bombardierung des bis dato von Salvador Allende geführten Regierungspalast „La Moneda" zerstörte mit einem Schlag alle demokratischen Strukturen des Landes. In den darauffolgenden 17 Jahren wurden politisch Andersdenkende getötet, gefoltert und auch über Grenzen hinweg verfolgt. Das kleine und schmale Land am anderen Ende der Welt wurde mit Unterstützung der USA zu einem Versuchslabor des Neoliberalismus. Das autokratische Regime konnte durch Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen und ungebremsten Freihandel unter Missachtung von Menschenrechten ein erhebliches Wirtschaftswachstum vorweisen.

Auf Wunden folgen Narben

El Golpe heißt wörtlich übersetzt „der Schlag“ und jede Form von Gewalt hinterlässt ihre Spuren. Erst sind es Wunden und dann folgen Narben. Die Schmerzen werden weniger, aber die sichtbaren Folgen bleiben. Wie Gesellschaften mit ihrer Geschichte umgehen, welche Bewältigungs- und kollektiven Erinnerungsstrategien sie umsetzen und welcher gesellschaftlicher Konsens erreicht werden kann, ist jedoch höchst unterschiedlich. In Chile zeigen die aktuellen Diskussionen in Politik und Medien die große Zerrissenheit der Bevölkerung. Statt das hohe Gut einer funktionierenden Demokratie zu würdigen, betonte der ehemalige rechtskonservative Präsident Sebastian Piñera im Interview mit einer der größten Tageszeitungen Mitte Juni diesen Jahres die wirtschaftlichen Vorteile der Diktatur. Kurze Zeit zuvor hatte eine der Führungspersönlichkeiten des Verfassungsrates, Luis Silva (Republikaner), Pinochet als ehrwürdigen „Staatsmann“ bezeichnet. Dass solche Äußerungen von (ehemaligen) Amtsträgern möglich sind, zeigt eine unzulängliche Vergangenheitsbewältigung.

Gedenken an 50 Jahre Putsch mit der Regierung Boric

Das 50-jährige Gedenken an den Militärputsch fällt in das zweite Amtsjahr des links-progressiven Präsidenten Gabriel Boric. Mit seinem Amtsantritt im Jahr 2022 kam eine junge Generation von Politiker*innen an die Macht, die ihr Leben in Demokratie gestalten konnten und sich für gesellschaftliche Veränderungen politisch Gehör verschafften. Die Hoffnung auf ein anderes Chile begann nach langjähriger Mobilisierung der Bevölkerung für gesellschaftliche Gerechtigkeit in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge und einer wirtschaftlichen Entwicklung, die neben sozialer auch Umweltgerechtigkeit berücksichtigen sollte. Während frühere Proteste mit einer klaren Agenda von den sozialen Bewegungen getragen wurden, war der Aufstand im Oktober 2019 (Estallido Social) eine Grundsatzkritik am bestehenden chilenischen System. Breite Teile der Gesellschaft trugen die Forderung der Transformationsbewegungen mit und stellten sich gegen die wachsende soziale Ungleichheit, die mangelnde soziale Absicherung und gegen die politischen Eliten. Außerdem stellten sie sich gegen die Ausgrenzung von dem politischen System, das von Institutionen aus der Militärdiktatur geschaffen wurde.

Neben der Wahl Gabriel Borics zum Präsidenten sollte auch die Ausarbeitung einer neuen Verfassung den Weg ebnen: Der Aufbau einer modernen Demokratie durch Partizipation, Dezentralisierung und Plurinationalität sollte diese Defizite für den Aufbau eines neuen Entwicklungsmodells des Landes hinter sich lassen. Die Narben sollten durch institutionelle Verankerung verblassen. Die Realität sieht jedoch anders aus.

Volksabstimmung gegen die neue Verfassung

Die erste demokratisch gewählte und paritätisch zusammengesetzte Verfassungsgebende Versammlung scheiterte im September 2022 und so gilt weiterhin die Pinochet-Verfassung aus dem Jahr 1980. In breiten Teilen der Bevölkerung wurde die Hoffnung auf die endgültige Abkehr vom einstigen Diktator gedämpft. Durch die während der Militärdiktatur (1973-1990) verabschiedete Verfassung ist Pinochets Präsenz immer noch deutlich zu spüren und die Grundpfeiler des neoliberalen Wirtschaftsmodells erhalten Rückendeckung durch das Grundgesetz.

Dies zeigt sich insbesondere daran, das Wirtschafts- vor Gemeinwohlinteressen gestellt werden und jede Form von Sozialstaatetablierung verfassungsrechtlich verhindert wird. Die bestehende Verfassung sieht die Rolle des Staates in der Bringschuld der Wirtschaft und das chilenische Subsidiaritätsprinzip bevorzugt die private gegenüber der öffentlichen Versorgung von gesellschaftlich relevanten Gütern wie Wasser, Bildung, Gesundheit, Renten, Biodiversitäts- und Umweltschutz, etc.. Das Scheitern des verfassungsgebenden Prozesses hatte zur Folge, dass Politikverdrossenheit und Misstrauen gegenüber den politischen Eliten wieder anstiegen.

Keine Mehrheiten für progressives Regierungsprogramm

Ohne Mehrheiten des Regierungsbündnisses in den beiden Kammern, können die geplanten Neuerungen der progressiven Links-Regierung zum Aufbau eines Sozialstaats nicht durchgeführt werden und scheitern wie zum Beispiel im Falle der angedachten Steuerreform bereits vor dem Beginn möglicher Regierungsverhandlungen. Dieses Vakuum der Handlungsunfähigkeit der chilenischen Regierung wurde mit harter Angstrhetorik und Delegitimierungskampagnen der antidemokratischen ultrarechten Kräfte gefüllt und ließ das Pendel bei der Wahl zum zweiten verfassungsgebenden Prozess nach Rechtsaußen schwingen. Vertreter*innen der Republikanischen Partei erhielten bei der Wahl für den Verfassungsrat im Mai 2023 35 Prozent der Sitze. Aufgrund der benötigten Zweitdrittelmehrheit für Veränderungsvorschläge, haben sie damit genügend Stimmen, um diese zu verhindern. Gleichzeitig kommen sie zusammen mit der gemäßigten Rechten auf insgesamt 64 Prozent der Sitze und können ohne die linken Parteien voraussichtlich jeden Änderungsbeschluss durchsetzen.

Bis November muss der von der Expert*innenkommission vorgelegte Verfassungsentwurf im Verfassungsrat diskutiert und bearbeitet werden, bevor er in der Volksabstimmung am 17.12.23 von der Bevölkerung ratifiziert oder abgelehnt werden kann. Die Vorliebe der ultrarechten und rechts-konservativen Parteien zu Regieren steht weit über dem Arbeitsauftrag eine neue Verfassung vorzulegen. Dies wird vermutlich auch den zweiten Prozess scheitern lassen. Da diese Parteien nie einen Systemwechsel im Sinne einer sozialgerechten Gesellschaftsstruktur befürworteten und plötzlich längst sicher geglaubte Entwicklungen wie das Recht auf Abtreibung und Gleichstellungsmechanismen in Frage stehen, werden Antagonismen auf dem Präsentierteller serviert. Weitere Veränderungen, die die Rechte an dem moderaten Entwurf vornehmen will und die im krassen Gegensatz zu den Transformationsgedanken der Protestbewegungen von 2019 stehen, beziehen sich auf Erziehungsfragen von Kindern, die sie in den Händen der Familie anstelle des Staates sehen. Darüber hinaus wollen sie das Streikrecht einschränken und gesetzliche Geschlechterparität verhindern.

Diese Änderungswünsche gemeinsam mit der Zweidrittel-Mehrheitsregel können einen Text entstehen lassen, der weitaus konservativer ist, als die Verfassung von 1980. In der Bevölkerung führt dies zu Desinteresse gegenüber dem Prozess und Frustrationen über die verpasste Chance auf einen Wandel.

Moralische Grenze zwischen Demokratie und Diktatur

Eine moderne Demokratie erfordert einen gewissen gesellschaftlichen Konsens, der zunächst lapidar klingt: Demokratie ist die einzige Staats- und Gesellschaftsform, die in der Lage ist, mit gemeinsamen Anstrengungen die multiplen Krisen der heutigen zu Zeit zu meistern. Gleichzeitig ist die Wahrung der Menschenrechte und die Stabilität von Institutionen und Gesetzen bedingungslose Voraussetzung für das Funktionieren einer modernen Demokratie. Es ist richtig und wichtig für Demokratien, ein breites Spektrum an politischen Parteien zu haben, in denen sich diverse Interessen der Bevölkerungen widerspiegeln. Dieses Spektrum hat aber seine Grenzen nach rechts und auch nach links. Sobald demokratische Grundsetze überschritten werden, die Freiheit der Bürger*innen eingeschränkt wird und der Staat keine Möglichkeit hat, ein soziales Netz für benachteiligte Bevölkerungsgruppen aufzubauen, dann sollte dies verfassungsrechtliche Konsequenzen haben.

Der 50. Jahrestag des Militärputsches in Chile fällt in eine Zeit, in der diese Grundpfeiler in Frage gestellt werden. Anstrengungen und Errungenschaften des Demokratisierungsprozesses seit 1990 fallen um Lichtjahre zurück, wenn die Demokratie in Frage gestellt wird und positive Bezüge zur Diktatur salonfähig sind. Dies zeigt, dass ein gesellschaftlich geteilter Erinnerungsdiskurs über die Gräueltaten der Diktatur fehlt und es keine klare moralische Abgrenzung zwischen Diktatur und Demokratie gibt.

Die chilenischen Medien haben daran eine große Mitschuld, denn sie befördern diese Polarisierung. In modernen Demokratien ist ihre Funktion als unabhängige und neutrale Informationsinstanz unentbehrlich. Das Land muss diese Hürde überwinden und einen demokratischen Konsens finden, damit ein zukunftssicheres Entwicklungsmodell umgesetzt werden kann: Ein Entwicklungsmodell, das Transformationen anstößt, um der Klimakrise zu begegnen und um sich von den Abhängigkeiten des extraktivistischen Modells zu befreien.

Dieses Entwicklungsmodell braucht ein zukunftsorientiertes Narrativ zum Umgang mit natürlichen Ressourcen und muss wirtschaftliche mit gesellschaftlichen Entwicklungen verbinden. Für diese Veränderungen braucht die Gesellschaft Kraft, auch damit die Narben der Diktatur verheilen können.