Wahl in Polen: "Deutschland und Polen werden im Rahmen der NATO eng kooperieren müssen"

Interview

Sicherheitspolitik hat in Polen seit jeher einen hohen Stellenwert. Die russische Invasion in der Ukraine hat dies noch verstärkt und das Land dazu veranlasst, mehr in die Verteidigung zu investieren. Wie Polen zu einem wichtigen Akteur an der NATO-Ostflanke wurde, beschreibt Sicherheitsexpertin Justyna Gotkowsk.

Justyna Gotkowsk ist Vizedirektorin des Warschauer Thinktanks Zentrum für Oststudien.

Joanna Maria Stolarek: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt für ganz Europa eine sicherheitspolitische Zäsur dar. Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen den mittelosteuropäischen und den westeuropäischen Staaten?

Justyna Gotkowska: Polen, die baltischen Staaten, aber auch Schweden, Finnland, Norwegen sowie Rumänien und Bulgarien haben nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine verstanden, dass sich die Sicherheitslage in Europa nachhaltig verändert hat. In Westeuropa ist dieses Verständnis zwar auch vorhanden. Doch die Staaten an der NATO-Ostflanke wissen, dass der Ausgang des Krieges in der Ukraine und auch das Einfrieren des Konflikts unmittelbare Folgen für ihre Sicherheit haben wird, für Polen oder das Baltikum gar existenzielle. In Westeuropa wird der russische Angriff immer noch weitgehend als regionaler Krieg wahrgenommen, der zwar mittel- und langfristig die Sicherheit in Europa und sicherlich auch die Beziehungen zu Russland verändert, sich aber nicht unmittelbar auf die Sicherheit der westeuropäischen Staaten auswirken wird.

Demgegenüber ist in Ostmitteleuropa die Bedrohungslage direkt spürbar. Und deswegen ist das Verständnis dessen, was von diesem Krieg abhängt, ein anderes als in Westeuropa, wo man generell über die europäische Sicherheit nachdenkt, über die Rückkehr zum internationalen Recht, über die europäische Ordnung, die es zu sichern gilt, um die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine wiederherzustellen. Aber dort denkt man nicht in den Kategorien der eigenen staatlichen Souveränität oder eines Krieges, der in Zukunft auch das eigene Land betreffen kann.

Wird das Thema Sicherheit und Verteidigung auch in der breiten polnischen Gesellschaft diskutiert oder findet das eher auf politischer Ebene statt?

In Ostmitteleuropa ist die Bedrohungslage direkt spürbar.

Hier sehen wir einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen Ostmitteleuropa und Westeuropa. Für die Gesellschaften hier in der Region, also in Polen und im Baltikum, ist es selbstverständlich, dass angesichts der realen Bedrohungslage viel in die nationalen Streitkräfte und in die Sicherheit insgesamt investiert werden sollte. Dagegen gibt es kaum Einwände. Vielmehr wird in der Öffentlichkeit darüber diskutiert, ob nicht deutlich mehr Geld für die Verteidigung innerhalb der NATO ausgegeben werden sollte – statt zwei Prozent eher vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In Westeuropa ist die Situation anders: Politiker*innen, die höhere Verteidigungsinvestitionen befürworten, müssen die Gesellschaft von dieser Notwendigkeit überzeugen. Das Bewusstsein, dass die nachhaltig veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa zu einem Umdenken im Bereich der Rüstung führen sollte, ist in der Gesellschaft und in Teilen der politischen Eliten vieler westeuropäischer Staaten nicht in dem Maße vorhanden wie in Ostmitteleuropa.

Wie hat sich die Rolle Polens in der europäischen Sicherheitsarchitektur verändert? Welche Rolle könnte das Land spielen?

Bereits vor der russischen Invasion in die Ukraine war Polen aus Sicht der NATO ein wichtiges Land für die Verteidigung der Ostflanke. Die USA bauten ihre militärische Präsenz in Polen aus und schufen eine Basis für die amerikanische Panzerbrigade und für weitere Einheiten der Kommandostrukturen an der NATO-Ostflanke. Die Rolle Polens in der Region ist vergleichbar mit der Rolle, die Deutschland für die USA in Europa spielt. Polen wurde nach dem 24. Februar 2022 zu einem wichtigen logistischen und operativen Drehkreuz für Europa und die USA. Der Flughafen in Rzeszów wird manchmal mit dem von Ramstein verglichen, da hierüber militärische und humanitäre Hilfen in die Ukraine geliefert werden.

Polen hat nun eine Doppelrolle zu spielen: als wichtiges Land in der Strategie des Westens, der Ukraine militärisch beizustehen; und in der Strategie der NATO, die Ostflanke zu sichern. In Zukunft könnte noch eine weitere Rolle hinzukommen. Angesichts der Investitionen, die Polen in den letzten Jahren und seit der russischen Invasion in seine Verteidigung getätigt hat, könnten die polnischen Streitkräfte eine weitaus größere Rolle in der Verteidigungsstrategie der NATO und an ihrer Ostflanke spielen. Das heißt, das Kräfteverhältnis im Rahmen der NATO wird sich in den nächsten Jahren zugunsten Ostmitteleuropas verändern.

Das Zentrum der NATO wird sich also nach Osten verschieben?

Das passiert sowieso. Die Strategie der NATO ist klar, Russland wird als die größte Bedrohung, auch militärischer Art, gesehen. Die Prozesse, die derzeit in der NATO ablaufen, sind auf Verteidigung und Abschreckung ausgerichtet. Alle Strukturen werden verändert, um die NATO als Verteidigungsbündnis besser an die neue Lage anzupassen. Und diese neue Situation bedeutet eben, dass Russland nicht nur einen Aggressionskrieg gegen die Ukraine führt, sondern dass dieser auch eine potenzielle Bedrohung für die NATO-Ostflanke darstellt. Dieses Bedrohungspotenzial zeigt sich sowohl in konkreten Aktionen, wie der Verletzung des Luftraums oder der Verlegung von Nuklearwaffen nach Belarus, als auch in der Rhetorik. Diese macht deutlich, dass der Kreml die NATO als strategischen Gegner betrachtet, den er mit verschiedenen Mitteln, vorerst aber noch nicht militärisch, schwächen will.

Dazu gehören unter anderem der Migrationsdruck an der polnisch-belarussisch-litauischen Grenze, Desinformationskampagnen in den EU-Ländern oder politische Korruption, um nur einige zu nennen. Die Gefahr, dass Russland einen NATO-Staat angreift, ist derzeit gering. Der Westen gibt sich größtenteils geschlossen und Russland ist stark in den Krieg in der Ukraine eingebunden und wird keine weitere militärische Eskalation riskieren. Doch in der Zukunft kann sich das ändern. Wir wissen nicht, was in zwei Jahren passiert. Vielleicht gibt es einen völlig anderen Präsidenten in den USA, der eine andere Sicherheitspolitik verfolgt. Vielleicht wird der Westen gespalten. Die Region an der NATO-Ostflanke sollte darauf vorbereitet sein und ihr Sicherheitskonzept militärisch wie nichtmilitärisch an die neue Situation anpassen.

Das kann Polen aber nicht alleine stemmen. Inwieweit muss hier zum Beispiel die Europäische Union helfen?

Nein, Polen kann das nicht alleine stemmen, und es wäre unfair, wenn nur die Ostflanke-Staaten drei, vier oder fünf Prozent ihres BIP für die Verteidigung ausgeben, und die anderen europäischen Staaten nicht. In der Vergangenheit war es ja auch nicht so, dass nur Westdeutschland hohe Investitionen in die Verteidigung getätigt hat, sondern das gesamte Bündnis hat das getan. Es waren nicht nur US-Amerikaner in Westdeutschland stationiert, sondern auch Franzosen und Briten. Daher erwarten die NATO-Ostflanke-Staaten jetzt, dass auch die westeuropäischen Verbündeten, wie Frankreich und Deutschland, wesentlich mehr zur Verteidigung und Abschreckung beitragen, als es zurzeit der Fall ist.

Es gibt die Hoffnung, dass Deutschland zwei Prozent des BIP für die Verteidigung ausgibt und auch in der Zukunft ausgeben wird. Denn die Krise, in der wir uns jetzt befinden, ist eine längerfristige Krise, die die Sicherheitsordnung grundlegend verändern wird. Es gibt zwei Staaten, die die existierende Ordnung global und europäisch umgestalten wollen: China und Russland. Darauf müssen wir uns vorbereiten und mehr in die Sicherheitsstrategie investieren – sowohl militärisch als auch politisch, ökonomisch, infrastrukturell, energiepolitisch.

Zur Rolle der Europäischen Union: Die meisten Menschen in Europa haben verstanden, dass die NATO ein Bündnis ist, das der Verteidigung und der Abschreckung dient. Ich würde die EU im Bereich der Sicherheitspolitik eher als eine subsidiäre denn als eigenständige Akteurin sehen. Die EU unterstützt das Bündnis, indem sie europaweit wirksame Instrumente einführt und Kooperationen zwischen den Mitgliedstaaten schafft, etwa bei der Munitionsproduktion oder einem gemeinsamen Markt. Die militärische Hilfe der EU für die Ukraine hat mit der Europäischen Friedensfazilität begonnen, über die die Waffenlieferungen der Mitgliedstaaten an die Ukraine finanziert werden. Hinzu kommt die militärische Trainingsmission für ukrainische Soldaten, die beispielsweise in Polen und in Deutschland stattfindet. Diese Formen der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene könnten noch verstärkt werden.

Was bedeutet die neue Sicherheitspolitik Polens für die deutsch-polnischen Beziehungen?

Die Staaten an der NATO-Ostflanke blicken skeptisch auf die deutsche Politik.

In einer idealen Welt wären Deutschland und Polen die wichtigsten strategischen Partner, um die Sicherheit Europas zu garantieren. Polen in seiner Rolle als starker Partner an der Ostflanke, der aufgrund der Bedrohungslage viel in Sicherheit investiert. Deutschland als Wirtschaftsmacht, die Interesse daran hat, dass ihre unmittelbaren Nachbarn in Frieden leben und die Sicherheit in Europa unantastbar bleibt. Deutschland müsste mehr Verantwortung übernehmen, was in der Realität bedeutet: mehr Investitionen in die Bundeswehr, mehr Aktivität an der Ostflanke und mehr Verantwortung im Rahmen der Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie der NATO. Idealerweise sollte dies in enger Kooperation mit Polen und den baltischen Staaten, vor allem im logistischen Bereich, erfolgen.

In der Realität sieht das ein wenig anders aus. Deutschland ist nach wie vor unwillig, diese verantwortungsvolle Rolle in Europa und in der NATO zu übernehmen, auch wenn die Zustimmung zu höheren Militärausgaben zumindest teilweise vorhanden ist. Dies führt dazu, dass Deutschland in der Region nicht als glaubwürdiger Partner angesehen wird. Die Staaten an der NATO-Ostflanke blicken skeptisch auf die deutsche Politik, weil sich das Land in den ersten Monaten der russischen Invasion in Bezug auf die Waffenlieferungen an die Ukraine zögerlich verhalten hat. Die deutsche Politik gegenüber der Ukraine wird immer noch als zurückhaltend wahrgenommen, vor allem mit Blick auf deren NATO-Mitgliedschaft und die Waffenlieferungen.

Jetzt haben wir die Debatte über Taurus-Langstreckenraketen. Ich glaube, manche in Deutschland können es noch nicht ganz fassen, dass wir in einer anderen Realität leben, in der Russland langfristig zur Bedrohung wird, und dass es den Verhandlungsspielraum mit Moskau nicht mehr gibt. Aus polnischer Perspektive stellt sich deshalb die Frage: Wie würde Deutschland agieren, wenn es zu einem NATO-Bündnisfall käme? Diese Zweifel sind spürbar, obwohl klar ist, dass eine Kooperation mit Deutschland im Rahmen der NATO immens wichtig ist. Ich glaube aber auch, dass Berlin mit etwas Unruhe auf polnische Investitionen in die Streitkräfte schaut und auf die immer stärker werdende Rolle der Region innerhalb der NATO. Denn dadurch könnte die Befürchtung entstehen, dass die Rolle Deutschlands unterminiert wird.

Die polnische Ukraine-Politik wird manchmal auch als zu offensiv angesehen. Die zurückhaltende und vorsichtige Herangehensweise der deutschen Partner stößt wiederum in Polen auf Unverständnis. Oft höre ich Skepsis, aber auch die Befürchtung auf deutscher Seite, dass die engere Zusammenarbeit mit Polen dazu führen könnte, in einen Konflikt mit Russland hineingezogen zu werden. Kurzum, es fehlt an gegenseitigem Vertrauen, um eine weitgehende militärische Kooperation zwischen Deutschland und Polen zu starten. Aber ich glaube, dass es dazu im Rahmen der NATO sowieso kommen wird. Wir haben die neuen regionalen Verteidigungspläne – Polen und Deutschland werden im Rahmen der NATO eng kooperieren müssen. Die Zusammenarbeit könnte allerdings umfangreicher ausfallen, wenn sich beide Länder in ihren Positionen annähern könnten und weniger Misstrauen in Bezug auf die Bedrohungsperspektive, das Verhältnis zu Russland und die Ukraine-Politik bestünde.

Am 15. Oktober 2023 wird in Polen ein neues Parlament gewählt. Welchen Einfluss haben diese sicherheitspolitischen Aspekte auf den Wahlkampf und die Wahl in Polen?

Die polnische Sicherheitspolitik ist ein Thema, das nicht spaltet. Es herrscht Konsens zwischen der Regierungspartei und der Opposition. Die Investitionen in die Verteidigung, die Stärkung der Wehrhaftigkeit, die Stärkung der NATO und die Vertiefung der Kooperation mit den USA sind unumstritten. Vielleicht gibt es Unterschiede im Detail, aber keine prinzipiellen. Daran wird sich auch nach der Wahl nichts Wesentliches ändern, unabhängig davon, wer die neue Regierung stellt.