Argentinien: Rechtslibertärer Milei muss in die Stichwahl

Kommentar

Der rechtslibertäre Kandidat Milei scheiterte bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag mit seinem Ziel, bereits im ersten Durchgang die notwendige Mehrheit zu erreichen. Das progressive Regierungslager um den Kandidaten Massa konnte in den vergangenen Wochen mehr Wähler*Innen mobilisieren und deutliche Stimmenzuwächse erzielen. Damit ist die Stichwahl für das demokratische Lager aber noch nicht entschieden.

Eine feiernde Menge am Wahlabend in Argentinien auf der Straße

Die internationale Prominenz der globalen Neurechten sollte sich im „Búnker“, dem Wahlkampfhauptquartier des rechtslibertären Kandidaten Javier Milei und seiner noch extremeren Vize Victoria Villaruel, drängeln: Eduardo Bolsonaro aus Brasilien, Santiago Abascal und Herrman Tertsch der spanischen Vox, und angeblich auch die Nichte von Marine LePen, Marion Merechal, sowie zahlreiche Figuren der zweiten Reihe dieser globalen Netzwerke waren extra angereist, um den erwarteten Durchmarsch Mileis im ersten Wahlgang gebührend zu feiern und auszuschlachten.

Doch daraus wurde erst mal nichts: Nach einem Wahlkampf-Kraftakt sondergleichen und verbissener Einigkeit in den vergangenen Wochen hat das Regierungslager sein Ergebnis im Vergleich zu den Vorwahlen um rund 8 Prozentpunkte und 1,6 Millionen Stimmen verbessert, und rückt damit an erster Stelle - vor Mileis La Libertad Avanza LLA - in die Stichwahl ein. Das ist in erster Linie der massiven Mobilisierung des Regierungslagers in der Provinz Buenos Aires und den Vorstädten, aber auch in verschiedenen Provinzen des Landes zu verdanken. Doch womöglich vor allem dem radikalen Kandidaten Milei selbst: Zwar bemühter er sich sichtlich, auch in den ansonsten eher zähen Fernsehdebatten für den nun anstehenden „Ernstfall“ des ersten Wahlganges einen moderateren Tonfall anzuschlagen, doch zwischenzeitliche, rabiate Auftritte von ihm, seiner Vize Villaruel und anderen Kandidat*innen haben in Verbindung mit einer nicht unbegründeten, aber doch geschickten Angst-Kampagne der Regierung eine entscheidende Rolle gespielt.

Milei: Gescheiteter Versuch der moderaten Darstellung

In einem online ausgestrahlten Interview mit dem ehemaligen Fox-Moderator Tucker Carlson wiederholte Milei seine Beschimpfungen gegenüber Papst Franziskus, den er als „Kommunistenfreund“ und „Unterstützer blutiger Links-Diktaturen“ bezeichnete. Derweil brachte Lilia Lemoine, seit Sonntag gewählte Kongressabgeordnete Mileis Partei und bekennende Flat-Eartherin einen Gesetzesvorschlag in die Debatte, der Männern nach 15 Tagen das Recht einräumen soll, eine Vaterschaft abzulehnen – mit dem Ziel, sich somit von „lebenslangen Unterhaltspflichten zu befreien“, wenn sie von Frauen „mit einer ungewollten Vaterschaft reingelegt worden seien“. Lemoine, bis dato hauptberufliche Cosplayerin und außerdem persönliche Stylistin Mileis, passte mit ihrer Reichweite in den Netzen perfekt in die Strategie der LLA, vor allem jüngere Zielgruppen mit diskriminierenden, demokratie- und frauenfeindlichen Botschaften zu bombardieren. Beide Äußerungen dürften bei unterschiedlichen Wähler*innengruppen angesichts der positiven Wahlprognosen Mileis dann doch einen Reflexionsprozess ausgelöst haben.

Schon vor und besonders seit den Vorwahlen bemühte sich Mileis Stab, neue, „gemäßigte“ Experten ins Team zu holen, die vor allem für eine deutlich wirtschaftsliberale Orientierung stehen sollten, wie den ehemaligen Vertreter Argentiniens vor der Interamerikanischen Entwicklungsbank, Guillermo Francos, der sogar vom aktuellen Präsidenten Fernandez in seinem Amt bestätigt wurde. Francos mühte sich sichtlich, mit ruhigem und gemäßigtem Tonfall hinter Mileis erratisch-radikalen Entgleisungen herzuwischen, um den Schaden nicht größer werden zu lassen. In den letzten Wochen mündete die Vorsicht in einem faktischen Redeverzicht, wenn nicht -verbot Mileis bei dessen Auftritten vor Ort. Dennoch konnte Milei mit 29,98 Prozent sein Ergebnis der Vorwahlen nicht verbessern.

Taktiken wie Trump und Bolsonaro: Mileis Lüge des Wahlbetruges

Gleich am Abend versuchte sich sein Lager mit erwartbaren Erklärungen: Ganz nach dem trumpschen und bolsonaristischen Lehrbuch wurden Zweifel und Gerüchte über fehlende oder manipulierte Wahlzettel gestreut. Milei selbst feierte am Abend - etwas bescheidener noch als im Wahlkampf mit seiner Selbstgewissheit über einen Sieg in erster Runde - sein Ergebnis als unglaubliche Erfolgsgeschichte. Vor allem vermied er auffallend, erneut über „die Kaste“ der etablierten Politik herzuziehen, die alle gleich verantwortlich für die Misere Argentiniens seien. Seine Angriffe fokussierten ausschließlich auf den Kirchnerismus.

Damit ist die Strategie seines Lagers klar: er wirbt um die nicht-kirchneristischen Gouverneure und Bürgermeister des konservativen Peronismus, wie vor allem um die Wählerschaft der mit nicht ganz 24 Prozent weit abgeschlagenen Patricia Bullrich, Kandidatin der konservativen Oppositionspartei PRO des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri.

Der schwerfällige Wahlkampf und bittere Abstieg der PRO: Folgen von Macris Zweideutigkeit

Für den PRO dürfte dies ein bitterer Abend gewesen sein - noch zu Jahresbeginn schien der Wahlsieg in der Eigen - und Fremdwahrnehmung außer Frage zu stehen, nicht zuletzt dank einer damals noch dominierenden Figur wie dem eher integrierenden liberalkonservativen Horacio Rodriguez Larreta, der von Macri und Bullrich in den Vorwahlen verdrängt wurde. Der vor allem als anti-kirchneristisch/peronistische, konservative Allianz sehr unterschiedlicher Kräfte gegründete PRO dürfte nun vor allem dank der starrsinnigen, ultrakonservativen Orientierung seines Gründers und Übervaters Mauricio Macri auf eine Zerreißprobe zusteuern. Macri ließ zuletzt immer wieder seine Präferenz für ein wie auch immer geartetes Bündnis mit Milei und eine harte Hand im Durchsetzen von radikalen Reformen durchscheinen und ließ streckenweise sogar Zweifel an seinem Rückhalt für seine Kandidatin Bullrich aufkommen.

Diese fatale Selbstbezogenheit und Zweideutigkeit machte den eh schon schwerfälligen Wahlkampf Bullrichs noch komplizierter und lässt nun dem PRO kaum noch Optionen. Der ultra-konservative Teil wird sich wohl bestenfalls gar nicht äußern und in rücksichtsvoller Stille Milei wählen, sich im schlechtesten Fall jedoch offen dem Milei-Lager andienen, und sei es über parlamentarische Allianzen: Damit bliebe auch dem liberaleren Teil kaum eine andere Option, als dem Regierungskandidaten Massa ebenfalls eine wie auch immer geartete parlamentarische Kooperation in ausgesuchten Reformvorhaben anzubieten, um nicht vollständig in der Versenkung zu verschwinden. Zumal für viele Akteure*innen dieses Spektrums die Radikalität Mileis und dessen Umfeldes durchaus eine erhebliche Gefahr für die institutionelle Stabilität und demokratischen Konsense der letzten vierzig Jahre seit dem Ende der Diktatur darstellen.

Erleichterung beim Regierungskandidaten Sergio Massa

Während bei den Rechtslibertären vergleichsweise lange und dem Pro noch längere Gesichter dominierten, war die Erleichterung im Lager des Regierungskandidaten Sergio Massa beinahe greifbar - ein derart deutlicher Vorsprung vor Milei war vor einigen Wochen noch kaum denkbar. Trotz der desaströsen wirtschaftlichen und sozialen Lage, weiter steigender Inflationsraten und mehrerer Währungseinbrüche sind die streckenweise kleinstteiligen Kalkulationen zwischen Fokus-Gruppen-Befragungen, Umfragen, Prognosen und feiner Wahlkamkpfarithmetik in Kombination mit einer unermüdlichen Präsenz in den Schlüsselprovinzen und -kommunen zumindest für den ersten Urnengang aufgegangen.

Massas Auftritt am Abend spiegelte das wiedererlangte Selbstbewusstsein in einer integrierenden, beinahe schon präsidentiellen Ansprache mit Kooperations- und Allianzangeboten an verschiedene Lager im Lande und dem Versprechen von Kontinuität und Verlässlichkeit Argentiniens in den internationalen Beziehungen und multilateralen Strukturen geschickt wieder. Auffälligerweise trat er an diesem Abend mit seinem Vize-Kandidaten Agustin Rossi und ihren jeweiligen Familien alleine auf - keine Begleitung durch die Kandidat*innen des Regierungsbündnisses, vor allem nicht aus dem kirchneristischem Lager.

Klar soll ab diesem Sonntagabend sein: Es ist ein neues Regierungsvorhaben, dass hier zur Wahl steht, Massa ist nicht ein Folgekandidat von anderer Politiker*innen Gnaden, wohl aber bereit für den sozialen und demokratischen Zusammenhalt im Lande zu arbeiten. Ob diese Botschaft bis zur Stichwahl am 19. November in hinreichendem Ausmaß sowohl eigene, progressive wie auch liberale Wählerschaften in der Mitte zu überzeugen und zu mobilisieren vermag oder seine Kandidatur zumindest als kleinstes Übel angesichts der rechtslibertären Bedrohung wählbar macht, ist noch offen.

Trotz Niederlage kann die rechtslibertäre LLA eine entscheidene Rolle im Parlament einnehmen

Klar ist, dass Mileis La Libertad Avanza LLA auch bei einer Niederlage in der Stichwahl als politische Kraft Bestand haben wird. Zeitgleich zur Präsidentschaftswahl wurde rund die Hälfte der Sitze im Kongress neu gewählt: Mit 38 Abgeordneten und 8 Senatssitzen ist LLA nun die dritte Kraft im Kongress und kann eine entscheidende Rolle in der Mehrheitsbeschaffung einnehmen, während sie zugleich als vermeintliche Fundamentalopposition weiterhin ihre disruptiven Strategien und Diskurse verbreiten kann. Vor allem hilft diese Ausgangsposition LLA jetzt, sich zu politisch zu konsolidieren und für die nächsten Halbzeitwahlen im Kongress in zwei Jahren und die Präsidentschaftswahlen in vier Jahren in Stellung zu bringen.

Ein nach diesem Abend nicht mehr unwahrscheinliches Szenario ist, dass sich vor allem mit und um Mileis Vize Victoria Villaruel LLA zu einem noch eindeutigeren, dauerhaften Sammelbündnis ultra-rechter und -konservativer Kräfte des Landes entwickelt und damit (Überlebens-) Möglichkeiten für konservative Kräfte reduziert, die die grundlegenden demokratischen Konsense des Landes anerkennen und auch zu verteidigen bereit sind. Das wäre für die argentinische Demokratie, wie für jede andere auch, eine fatale Entwicklung. Eine Strategie der Umarmung und Anbiederung an rechte Kräfte ist jedenfalls, das bestätigt der Wahlabend in Argentinien erneut, definitiv kein besonders erfolgreiches Rezept, um rechte Demokratieskeptiker und Demokratiefeinde einzuhegen.

Politische Entwicklung Argentiniens auch für Deutschland und die EU relevant

Auch für Deutschland und Europa ist diese Entwicklung eine Herausforderung. Sie müssen sich so oder so in ihren Beziehungen zu Argentinien und zur Region neue Prioritäten und Ansätze überlegen.  Schon jetzt befinden sich auch bislang progressiv regierte Länder wie Brasilien und Argentinien in einem strategischen Repositionierungsprozess im neuen globalen Gefüge und vertreten eigene strategische Interessen zunehmend deutlicher.

Will Europa nicht noch weiter an Bedeutung in der Region verlieren, muss es die Legitimität dieser eigenen strategischen Interessen anerkennen und die vielfach postulierte „Partnerschaft auf Augenhöhe“ mit konkreten Angeboten in gleichberechtigten Aushandlungsprozessen füllen.

Die politischen Entwicklungen in Argentinien und der Region im Kontext der aktuellen politischen Auseinandersetzung um die Zukunft „westlicher Demokratien“ angesichts der globalen Destabilisierungstendenzen durch Rechtslibertäre und autokratische Mächte sollten für Deutschland und Europa Anlass und Verpflichtung sein, Allianzen nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten, sondern vor allem auch für die Verteidigung demokratischer und rechtsstaatlicher Errungenschaften sowie eines regelbasierten internationalen Systems zu schließen – angesichts der globalen Krisen und Kriege eine Überlebensfrage.