Argentinien: Rechtslibertärer Javier Milei ist neuer Präsident

Analyse

Mit einem deutlichen Vorsprung von über 11 Prozent wurde der rechtslibertäre Ökonom Javier Milei zum neuen Präsidenten Argentiniens gewählt – nach einem scharfen Wahlkampf mit einem radikal-disruptiven Programm. Wie er das umsetzen will, bleibt allerdings unklar.

Javier Milei im Anzug schaut grinsend über den Rand seiner schwarzen Brille

In den Wochen vor der Wahl eskalierte der hitzige Wahlkampf in eine neue Dimension: Durch die sozialen Medien geisterten Bilder von grünen Ford Falcon-PKW, einem Modell aus den siebziger Jahren, mit dem die geheimen Killerkommandos der argentinischen Militärdiktatur über 30.000 Menschen entführten, ermordeten und verschwinden ließen. Sie wurden gezielt verbreitet von den Accounts ehemaliger Militärs – als makabre Warnungen gegen das demokratische Lager. Und sie gingen viral dank einer Armee digitaler Freiwilliger der künftigen Regierungspartei La Libertad Avanza (LLA) und ihren internationalen, rechten Verbündeten.

Die künftige Vizepräsidentin und Sicherheitsbeauftrage der neuen Regierung, Victoria Villaruel, bekannt für ihre Nähe zum Militär und ihre Relativierungen der Verbrechen der Militärdiktatur, hatte unlängst einen der betreffenden Account-Inhaber in einem anderen Zusammenhang verteidigt. Mileis Stylistin, die Abgeordnete und Cosplayerin Lilia Lemoine, retweetete den Video-Aufruf eines verurteilten Neo-Nazis an die Streitkräfte, doch endlich den Mut zu einem Putsch gegen den angeblich kirchneristisch (bezogen auf die drei Amtszeiten der Präsidenten Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner) infiltrierten Generalstab aufzubringen. Dies waren nur die zuletzt sichtbaren Spitzen eines sehr breiten, rechtsradikalen und ultrakonservativen Spektrums bis hin zu katholischen Ultras mit Bezügen zu Lefebvristen, das eine entscheidende Säule Mileis Erfolg ist und für weitere gesellschaftspolitisch regressive Forderungen zu Einschränkungen des Abtreibungsrechts oder von LGBTIQ-Rechten verantwortlich zeichnet.

Illusion über Wahlverhalten Konservativer

Der fulminante Wahlsieg Mileis hat die Illusion des nun ehemaligen Regierungslagers zerstört, dass die konservative Wählerschaft dessen „rote Linien“ für die demokratische Substanz der Gesellschaft mit ihrem Wahlverhalten dann doch nicht überschreiten, sondern sich enthalten würde. Die Wählerschaft des bereits in den Vorwahlen abgeschlagenen, gemäßigt konservativ-liberalen Horacio Rodriguez Larreta enthielt sich überwiegend, aber fast alle Stimmen der von Ex-Präsident Macri gegen Larreta organisierten Kandidatur Patricia Bullrichs, die im ersten Wahlgang auf Platz drei landete, gingen an Milei. Angesichts des nicht einmal im Ansatz konkretisierten Programms Mileis zur Einführung des US-Dollars in Argentinien, zum Staatsabbau, der Privatisierung von Staatsbetrieben und öffentlicher Dienstleistungen und anderer abstruser Vorschläge scheinen zwei zentrale Punkte den Ausschlag zum Wahlerfolg gegeben zu haben.

Der Wahlsieg Mileis ist auch der Erfolg einer Kulturkampf-Kampagne nach dem Drehbuch der internationalen Rechten.

Vor allem natürlich der Frust der Bevölkerung über die ökonomische Lage, die extrem hohe Inflation und den Wechselkurs, sowie der Wunsch nach einem radikalen Neuanfang. Bei einem bestimmten Teil dieses konservativen Wählerspektrums dürfte aber auch ein historischer und pathologischer Anti-Peronismus ursächlich sein, der sich nicht nur gegen ein Regierungsmodell richtet, sondern sich aus Mythen, Narrativen und sehr einseitigen Vorstellungen über die kulturelle und ethnische Verfasstheit Argentiniens als ausschließlich europäisch-weißer Nation speist.

Es war also nicht nur eine Wahl zwischen unterschiedlichen ökonomischen Entwürfen in einem desaströsen wirtschaftlichen Kontext, zu der sich zuletzt auch die Vereinigung der argentinischen Industrie und sogar die konservative Agrarlobby mit mäßigenden Stellungnahmen für die Demokratie zu Wort meldeten. Der Wahlsieg Mileis ist auch der Erfolg einer Kulturkampf-Kampagne, die nach dem Drehbuch der internationalen Rechten geschickt in den argentinischen Kontext übersetzt wurde.

Zu verdanken hat Milei diesen Sieg in ganz praktischer und vollumfänglicher Weise Ex-Präsident Macri und seiner Rochade nach dem ersten Wahlgang. Der sprengte das eigene, breite konservativ-liberale Wahlbündnis Juntos por el Cambio (JxC) und zwang seine konservative PRO-Partei mit der gescheiterten Kandidatin Patricia Bullrich in eine Unterstützung Mileis. Für viele Beobachter*innen ist weiterhin ein Rätsel, was ihn neben einer dezidiert konservativen gesellschaftspolitischen Agenda und politischer Egozentrik als gescheiterter Präsident dazu getrieben haben mag: Wäre er zu Beginn des Wahljahres nicht mit der Positionierung Bullrichs dazwischen gegangen, hätte Argentinien wohl mit ziemlicher Sicherheit bereits seit dem ersten Wahlgang einen konservativ-liberalen Präsidenten Horacio Larreta, der auch der Erste war, der ein einigermaßen konkretes und durchdachtes ökonomisches Reformprogramm vorgelegt hatte.

Umbau mit recyceltem Politikerpersonal

Nun steht der radikalst-mögliche Umbau einer demokratischen Gesellschaft und Wirtschaft westlichen Zuschnittes bevor, ohne dass seitens der neuen Regierungspartei LLA konkrete Umsetzungsschritte und –fristen in entsprechenden Gesetzesvorlagen und Entscheidungen vorliegen. Klar ist nach der ersten Ansprache Mileis als gewählter Präsident nur, dass er kein Jota von seinem Programm abweichen will.

Klar ist aber auch, dass er weiterhin aus seinem originären Spektrum kaum fähige Funktionseliten rekrutieren kann, die ein professionelles Verständnis von der Funktionsweise staatlicher und administrativer Strukturen und Instrumente haben. Diese Lücke wird nun ein Sammelsurium an ehemaligen Macri-Vertrauten, aber auch „recycelten“ Polit-Akteuren aus sehr unterschiedlichen Lagern vorhergegangener Regierungen, inklusive des konservativen Peronismus und ehemaliger Funktionär*innen der Menem-Regierung in den neunziger Jahren schließen müssen, von denen sich bereits einige am Wahlabend im búnker (Wahlkampfzentrale) der LLA mehr oder minder andienten. Auch Domingo Cavallo, der ehemalige Wirtschaftsminister Menems und Fernando de la Rúas, brachte sich vor einigen Tagen öffentlich wieder ins Gespräch.

Insofern scheint der Kampfbegriff von der „politischen Kaste“, die Milei „abschaffen“ wollte, schon jetzt Makulatur – viele der genannten Namen sind der Inbegriff eines begrenzt erfolgreichen politischen Establishments der letzten dreißig bis vierzig Jahre. Wer nun jedoch auf Mäßigung und eine professionell und transparent umgesetzte Reformagenda hofft, wird dennoch möglicherweise enttäuscht werden: Am Montag nach der Wahl kündigte Milei Privatisierungen staatlicher Unternehmen wie dem öffentlichen TV und Rundfunk, der Nachrichtenagentur Telam, der Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas, der Bahnen, Wasserversorgung, Verkehrsstraßen, Gaspipelines und der Erdölgesellschaft YPF an. Der Umfang und vor allem die Dringlichkeit des versprochenen Defizitabbaus und der Umsetzung von Zusagen an den IWF lässt, zumindest mit Blick auf die Erfahrungen und oben erwähnten Akteure der neunziger Jahre, kein besonders reibungsloses Privatisierungsmodell erwarten.

Die Umsetzung von Mileis  Plänen hat schwere soziale Folgen

Ganz zu schweigen von den sozialen Folgen, die ein umgehender und radikaler Abbau von Subventionen in Strom, Wasser, Gas- und Kraftstoffversorgung und den öffentlichen Nahverkehr haben kann. Die Umsetzung von Mileis ursprünglichen Plänen könnte die monatlichen Ausgaben für niedrigverdienende Familien um bis zu 100.000 Pesos (100 Euro nach inoffiziellem, parallelen Währungskurs) erhöhen, bei Einkommen von rund 200-400 Euro im Monat. Zugleich könnte die geplante radikale Flexibilisierung von Arbeitsgesetzgebung und Kündigungsmöglichkeiten sowie eine massive Entlassungswelle im öffentlichen Dienst und öffentlichen Unternehmen von bis zu mehreren hunderttausend Angestellten die Arbeitslosigkeit steil ansteigen lassen.

Das alles in einem wirtschaftlichen Umfeld, das – möglicherweise – durch eine schnelle und vor allem unkontrollierte Anpassung des offiziellen Wechselkurses vor der Einführung des US-Dollars als Landeswährung in einen erheblichen Inflationsschub und damit in eine noch tiefere Krise rutscht. Die Frage der Wechselkursentwicklung führt derzeit auch zu erheblichen Dissonanzen im Prozess der Amtsübergabe. Zwar hatte Präsident Fernández ein erstes Gespräch bereits für Montag angeboten, doch Milei besteht auf einen späteren Termin, um nicht für eine möglicherweise dramatische Abwertung der Landeswährung in politische Mithaftung genommen zu werden. Andererseits versucht das Regierungslager aus demselben Grund, sich der Regierungsverantwortung möglichst rasch zu entledigen. Ob und wie sich dieser Konflikt zuspitzt, hängt nicht zuletzt von der weiteren Wechselkursentwicklung ab.

Öffentlicher Protest soll mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eingeschränkt werden

Mit Blick auf sich daraus abzeichnende soziale Konflikt- und Protestszenarien äußerte Milei am Sonntagabend in seiner Ansprache bereits eine ganz klare Warnung und Androhung einer Linie der harten, und somit auch freien Hand für Sicherheitskräfte. Die möglichen Szenarien erinnern nicht von ungefähr an den Zusammenbruch von 2001, nur in einem aktuell sehr viel komplexeren Kontext von Erschöpfungszuständen. Vor allem ökonomischer Erschöpfung, weil den meisten Familien nach acht Jahren desaströser Wirtschaftspolitik und Inflation schlicht ein Reservepolster für das private Auffangen einer knallharten Austeritätspolitik fehlt.

Aber auch mentaler und psychosozialer Erschöpfung in einem Dauerkrisen- und Überlebensmodus, der nach über einem halben Jahr massiven Kampagnen der Desinformation und Hetze die Polarisierung der Gesellschaft nochmals dramatisch vertieft hat. Eine Implosion von Teilen der Gesellschaft in einer Welle gewöhnlicher Beschaffungskriminalität und Gewalt, wie sie bereits Anfang der 2000er Jahre das Land erschütterte, ist nicht auszuschließen.

Machtkämpfe mit Gewerkschaften – Unterdrückung der Zivilgesellschaft

Inwiefern die neue Regierung einen Zugang zu den gut organisierten, mächtigen Gewerkschaften findet, um sie auf einen radikalen Reformweg mitzunehmen, ist mehr als ungewiss: Präsident Menem erkaufte sich in den neunziger Jahren das Stillhalten zentraler Teile der Gewerkschaftsbewegung mit der Übergabe der Sozialkassen in die gewerkschaftliche Selbstverwaltung, wie auch zahlreicher Versicherungsleistungen sowie Erholungsanlagen und Hotels. Diese Art „Schweigegeld“ ist von einer Milei-Regierung eher nicht zu erwarten, und die Agenda der Rechtslibertären mit ihrem umfassenden Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten zielt sowieso eher auf einen finalen Machtkampf mit den Gewerkschaften ab – ganz nach dem Muster von Margaret Thatchers Linie im Bergarbeiterstreik in den achtziger Jahren in Großbritannien.

Gleiches gilt für die zahlreichen sozialen Bewegungen und Organisationen der selbstbewussten und starken argentinischen Zivilgesellschaft. Auch wenn bislang noch keine konkreten Ansagen zu vernehmen waren, scheint einerseits klar, dass die Finanzierung politisch nicht genehmer Positionen oder Organisationen, gerade in der Erinnerungs- und Menschenrechtspolitik, radikal zurück oder auf null gefahren wird. Gleichzeitig soll öffentlicher Protest mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eingeschränkt werden. Das würde für gewerkschaftliche und soziale Demonstrationen genauso wie für Proteste indigener Gemeinschaften rund um Bergbau- und andere extraktive Großvorhaben gelten, die nach dem Willen dieser Regierung mit aller Konsequenz in privater Regie vorangetrieben werden sollen.

Milei hat keine Mehrheit im Kongress

In diesem Zusammenhang spielen der Kongress und seine Mehrheitsverhältnisse eine entscheidende Rolle. Dort hat Milei selbst mit allen Stimmen der mittlerweile eigentlich inexistenten Koalition Juntos por el Cambio (JxC) keine dauerhaft tragfähige Mehrheit, und für zahlreiche Kürzungsvorhaben dürfte auch ein Teil der liberalen Mitte dieser Koalition keine Stimmen liefern. Insofern erschiene ein Mindestmaß an Bereitschaft für politische Aushandlungsprozesse und Kompromisse unabdingbar. Es ist nicht auszuschließen, dass ein Teil der konservativen Koalition JxC hier seine Verantwortung wahrnehmen und dies versuchen wird. Ob Milei die dafür notwendige Geduld und Konzessionsbereitschaft mitbringt, bleibt abzuwarten. Angekündigt hat er Gesprächs- und Allianzbereitschaft mit den Gouverneuren aus dem Spektrum von JxC, die immerhin zehn Provinzen regieren und so auch über den Senat und im Abgeordnetenhaus Einfluss haben.

Andererseits gab es schon in der Vergangenheit im Kongress immer wieder überraschende Veränderungen im Abstimmungsverhalten und Überläufer*innen und nicht zuletzt das verlockende Instrument des präsidentiellen Notstandsdekrets DNU (Decreto de necesidad y urgencia). DNU müssen zwar vom Kongress ratifiziert werden und dürfen auch keine Entscheidungen steuer- oder haushaltspolitischer Relevanz berühren, aber haben grundsätzlich erstmal Gültigkeit. Insofern stellt das Regieren per DNU ein reizvolles Instrument für einen Präsidenten mit fehlenden Mehrheiten dar – ob es in den entscheidenden politischen Vorhaben auf Dauer den notwendigen Rückhalt schafft, ist eine andere Frage. Und natürlich lassen sich DNU auch gerichtlich überprüfen und aufheben.

Als weitere Möglichkeit hatte Milei selbst bereits das Instrument einer „Volksbefragung“ ins Spiel gebracht, um mit derartigen Interventionen zu spezifischen Vorhaben politischen Druck auf den Kongress aufzubauen – doch auch hier bleiben die Pläne im Ungefähren.

Unklar ist bislang auch die Reichweite der Justizreform, die Milei anstrebt. Die Justiz soll „entpolitisiert“ werden und mehr Möglichkeiten haben, sich administrativ und finanziell selbst zu verwalten. Es bleibt abzuwarten, wie die konkrete Umsetzung dieses Vorhabens und ihre möglichen Folgen ausfallen, ebenso wie die Neubesetzung eines Richterpostens im Verfassungsgericht. Bislang scheinen keine Vorhaben für eine strategische Nutzung und Umbesetzung des Verfassungsgerichtes und anderer Ebenen der Justiz wie in anderen von Rechtspopulisten regierten Ländern in der Schublade zu liegen.

Insofern bleibt die Hoffnung, dass sich wie bislang eine funktionierende und einigermaßen unabhängige Justiz als letzte Instanz allzu übergriffigen politischen Entscheidungen oder Einschränkungen gegenüber durchsetzen kann.

Es müssen sich nun neue, tragfähige Allianzen finden.

Für das bisherige Regierungsbündnis der Peronisten Unión por la Patria (UP) stellt sich nach Massas Niederlage die Zukunft eher düster dar. Zwar konnte UP im Senat zwei weitere Sitze erlangen, doch ist das Bündnis von einer Mehrheit der 37 Sitze weiterhin deutlich entfernt und auf Koalitionen angewiesen. Im Abgeordnetenhaus dagegen verlor die UP weitere 10 Sitze, auf nun nur noch 108, und von vormals 12 Provinzen regiert UP nur noch in acht mit eigenen Gouverneuren. Das Rückzugsgebiet ist nun die Provinz Buenos Aires, die größte und wirtschaftlich bedeutendste Provinz des Landes, die auch in den jetzigen Wahlen vor allem in den Vorstädten bedeutende, aber letztlich nicht ausreichende Stimmenanteile für Massa lieferte.

Ob und wie eine Regeneration dieses Bündnisses auch im Zusammenspiel mit den Gouverneuren anderer Provinzen aussehen kann, oder ob es auch auseinanderbricht und sich in anderer Form als progressive Kraft neu aufstellen kann, wird auch von neuen Köpfen abhängen. Massa selbst hat einen wie auch immer gearteten und terminierten Rückzug aus der Politik angekündigt und Raum für Nachwuchs und Erneuerung angemahnt.

Was sich davon in den kommenden Jahren in einem politisch äußerst herausfordernden Umfeld tatsächlich strategisch entwickeln kann und lässt, hängt auch davon ab, wie gesprächs- und kooperationsbereit sich neue Köpfe bis in die liberale Mitte zeigen – es müssen sich nun neue, tragfähige Allianzen finden, um gemeinsam die roten Linien für das demokratische Miteinander zu bestimmen und gemeinsam zu verteidigen.