Ansprache von Imelda Marrufo Nava

Imelda Marrufo Nava am Rednerpult
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Imelda Marrufo Nava bei der Verleihung des Anne-Klein-Frauenpreises 2014

Für
Norma Laguna, Susana Montes, Olga Esparza und Ricardo Alani;
den Müttern und Vätern der drei jungen Mädchen, deren sterbliche Überreste im Tal von Juárez gefunden wurden;

Für
die Verteidigerinnen des Netzwerkes Mesa de Mujeres (Frauentisch) aus der Stadt Juárez;

Für
die Frauenbewegung des Bundesstaates Chihuahua, Mexiko;
das Nationale Netzwerk der Menschenrechtsverteidigerinnen in Mexiko.

Ich bin nicht gekommen, um Schlechtes über die Stadt Juárez zu erzählen, wie es dort einige Behörden behaupten. Ich liebe Juárez. Ich nehme ganz einfach meine Verpflichtung gegenüber meiner Stadt in der jetzigen Etappe ihrer Geschichte wahr.

Ich weiß, dass der Anne-Klein-Preis eine Form der Ehrung des Andenkens dieser Feministin ist, deren Werdegang durch ihren unermüdlichen Einsatz für mehr Frauenrechte, den Kampf gegen Diskriminierung und für sexuelle Selbstbestimmung geprägt war. Anne Kleins Wirken galt – ähnlich der Arbeit, die wir von Mexiko aus leisten – der Beseitigung der Gewalt gegen Frauen. Daher möchte ich euch kurz erzählen, woher ich komme.

Ich wurde in Ciudad Juárez, Chihuahua, geboren. Während meiner Kindheit und Jugend lebte ich auf der Westseite, die lange Zeit die Schlafstadt für die dort lebenden Arbeiterinnen und Arbeiter der für den Export produzierenden Fertigungsbetrieben war. Dann war ich an der Oberschule von Altavista, einer Schule, an der politische Diskussion gefördert und das vor über 40 Jahren in Juárez eingeführte Wirtschaftsmodell infrage gestellt wird, weil dieses Modell zu Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung führt.

Meine Mutter, Socorro Nava, hat mich bei der Beantragung eines Stipendiums für die Oberschule und das Universitätsstudium unterstützt. Ihr bin ich für ihre Hilfe dankbar, denn dadurch konnte ich das tun, was ich jetzt tue, und das erklärt, was ich bin.

Ich habe früh angefangen mich zu engagieren: als ich 17 war. Das ergab sich bei mir, wie auch bei den meisten Jugendlichen aus dem Westen von Juárez, aus der Familiengeschichte und den wirtschaftlichen Problemen, die wir hatten. So begann ich aktiv zu werden. Mein damaliger Lehrer war mein Freund Manuel Arroyo, der im Mai 2009 ermordet wurde und dessen Ermordung bis heute ungesühnt ist.

1993 haben wir Menschenrechtsorganisationen und -aktivistinnen begonnen, die Frauenmorde in Ciudad Juárez zu dokumentieren. Esther Chávez erhob als erste die Stimme. Der Einsatz von Müttern und Angehörigen ermordeter Frauen, das Engagement sozialer Organisationen, das Bemühen von Vertretern und Vertreterinnen der Fälle und die internationale Unterstützung erreichten 2009 die Verurteilung der mexikanischen Regierung durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Rechtsverletzung im Falle von drei in Ciudad Juárez verschwundenen, gefolterten und ermordeten Frauen.

Der Gerichtshof stellte fest, dass die seit 1993 gegen die Frauen aus Ciudad Juárez verübte Gewalt eine strukturelle Verletzung von Menschenrechten darstellt, für die der Staat verantwortlich ist. Dieses Urteil ist nicht nur für Ciudad Juárez und Mexiko, sondern für die gesamte internationale Gemeinschaft von Bedeutung, die seit den 90er Jahren schwere Gewalttaten gegen Frauen verfolgt. Seit 2006 werden die Frauenmorde in Mexiko, Mittelamerika und Lateinamerika dokumentiert und in europäischen Ländern über das globale Ausmaß dieses Phänomens diskutiert. Darüber hinaus werden verbindliche Rechtsinstrumente angeregt, damit die Europäische Union, wie es die jüngsten Aktivitäten in Brüssel, Belgien, gezeigt haben, gegen Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen vorgehen kann.

Im Fall Mexikos äußerte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, dass es Verzögerungen bei den Untersuchungen der 2001 an einem als Campo Algodonero bekannten Ort aufgefundenen ermordeten Jugendlichen gab. Die Untersuchungen wären nur schleppend vorangekommen bzw. die Akten gar nicht bearbeitet. Es wurde festgestellt, dass die mexikanische Regierung hier rechtswidrig gehandelt hat, weil sie dem Problem keine oder nur geringe Aufmerksamkeit beimaß. Heute können wir beim Thema „Gewalt gegen Frauen“ sagen, dass es Fortschritte gibt, wie z.B. die Schaffung von Institutionen für den Zugang zur Justiz. Jedoch wiederholen sich gegenwärtig verschiedene der 2001 vom Gerichtshof getroffenen Feststellungen. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Idaly Juache Laguna.

Idaly Juache Laguna verschwand vor vier Jahren im Februar. Ihre Mutter, Norma Laguna, gab die für die Suche nach ihrer Tochter notwendigen Informationen weiter. Die Staatsanwaltschaft in Chihuahua tat jedoch nicht dergleichen. Norma Laguna beantragte dann gemeinsam mit den Eltern anderer verschwundener Mädchen - Olga Esparza, Ricardo Alanía und Susana Montes - alle erforderlichen Maßnahmen, um ihre Töchter lebendig ausfindig zu machen. Obwohl jeder weiß, dass die ersten Monate entscheidend sind, um Verschwundene noch lebend aufzufinden, gab es in den ersten Jahren keinerlei Untersuchung. Diese Familien mussten zu Beginn dieses Jahres die sterblichen Überreste ihrer Töchter bestatten, d.h. das, was davon noch übrig war.

Dem Netzwerk Mesa de Mujeres (Frauentisch) aus Juarez gehören 10 lokale Organisationen an. Es verfügt über ein zentrales Büro. Dort erfassen wir die Frauenmorde und die an Frauen verübten Verbrechen, erarbeiten Präventionsprogramme und führen Schulungen und Rechtsberatungen für die Frauen durch. In unserem Büro begleiten wir Fälle von Gewalt, wie das Verschwinden von Frauen und Frauenmorde. Wir überprüfen Unterlagen und machen Vorschläge für die Nachforschungen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der psychosozialen Betreuung von Müttern und Familienangehörigen vermisster Frauen. Wir bieten ihnen eine ihrem Gesundheitszustand und ihrer Trauer entsprechende ganzheitliche Betreuung an. Wir nur ein sehr kleines Team mit viel zu viel Arbeit, aber unser Engagement macht dies wett.

Wir sind Teil des Nationalen Netzwerkes der Menschenrechtsverteidigerinnen in Mexiko. Drohungen, Überfälle und Morde und andere Risiken gehören zu unserem Arbeitsalltag. In Chihuahua gab es mehrere Morde an Menschenrechtsverteidigerinnen. Marisela Escobedo wurde vor dem Eingang des Regierungspalastes von Chihuahua ermordet, Josefina Reyes im Juárez-Tal. Die Dichterin Susana Chávez wurde vor einigen Jahren grausam umgebracht. In meinem Team kennen wir das sich aus unserer Arbeit ergebende Risiko, vor allem wenn wir uns um so schwierige Fälle wie den Frauenhandel kümmern.

Dieser Preis bedeutet für mich die Anerkennung des Engagements der Verteidigerinnen aus der Stadt Juárez in Chihuahua. Ich weiß, dass er dazu beitragen wird, unsere Arbeit sichtbarer zu machen. Die Gewaltfälle aufzuzeigen und zu begleiten, ist sowohl staatlichen als auch nichtstaatlichen Stellen lästig und wir leben mit ständiger Bedrohung. Der Preis wird für uns also auch ein wertvolles Schutzsymbol sein.

Die letzten Jahre waren für die Arbeit des Netzwerkes Mesa de Mujeres in dieser Hinsicht besonders schwer. Die Freilassung von Israel Arzate, einem Jugendlichen, der gefoltert und zu Unrecht wegen des Massakers an Jugendlichen in Villas de Salvarcar angeklagt war, bedeutete zwar einen Sieg für unsere Organisationen, die an diesem Fall gearbeitet hatten, war jedoch auch eine fast untragbare Aufgabe für unsere Kameradin Lupita Meléndez - die Mutter von Israel - und brachte unserem kleines Team viele Drohungen ein.

Durch die ständige Arbeitsüberlastung gefährden wir  auch unsere Gesundheit. Wie schmerzlich war es, als wir die Hoffnung aufgeben mussten, Mónica Janeth Alanís, Idaly Juache und Lupita Perez lebend aufzufinden, nachdem uns die Staatsanwaltschaft von Chihuahua mitgeteilt hatte, dass man ihre Überreste außerhalb der Stadt verstreut gefunden hatte. Es tat weh zu sehen, wie ihre Mütter und Familienmitglieder zusammenbrachen, auch als sie bei den Gerichtsverfahren anhören mussten, wie ihre Töchter zu etwas wurden, was man einfach wegwirft.

Deshalb ist dieser Preis auch ein Ansporn, der Kraft gibt, die Hoffnung auf Gerechtigkeit neu belebt und unseren Forderungen neue Kraft gibt. In diesem Jahr wollen wir mit der systematischen Erfassung von 20 Jahren Dokumentation der Frauenmorde in Juárez vorankommen. Wir wollen einen eine Publikation herausgeben, in dem dieser Teil der Geschichte mit unseren Stimmen erzählt wird. Der Preis wird uns dabei helfen. Wir wollen Materialien erarbeiten, gestalten, drucken und verbreiten, Materialien, die wir für die Arbeit des Netzwerkes Mesa de Mujeres zur Gewaltprävention dringend brauchen.

Es ist völlig klar: Wir müssen weitermachen. Wir müssen uns auf den mühsamen Weg machen – mit einfachen Mitteln und gegen Widerstände – wenn es darum geht, Mittel für die Betreuung von Familien, die Opfer von Gewalt geworden sind, einzusetzen. Damit die Ausrüstung und das Personal zur juristischen Begleitung der Fälle zur Verfügung stehen. Damit wir die Grundvoraussetzungen für die kontinuierliche Arbeit unseres Büros sichern können. Damit wir ein Selbstschutz-Programm für die Mitglieder des Netzwerkes und die an den jeweiligen Aktionen beteiligten Personen initiieren können. Damit wir das Programm für die Ausbildung weiterer Verteidigerinnen voranbringen und auf seiner Grundlage eine Schule aufbauen können.

Gerade anlässlich des 8. März, dem Internationalen Frauentag, möchte ich meine Bewunderung für den Kampf meiner Kameradinnen und Kameraden aus Ciudad Juárez ausdrücken. Es gibt erste Erfolge in der Auseinandersetzung mit den Institutionen, von denen wir Maßnahmen zur Vorbeugung, Verfolgung, Bestrafung und Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, ihr Verschwinden und ihre Ermordung fordern. Man kann diese Ereignisse nicht anders bezeichnen als – und hier zitiere ich das 7. Treffen über Frauenmorde in Brüssel - die Vorherrschaft eines machistischen Staates, der das Leben und die Sicherheit der Frauen ganz hintenan stellt.

Ich zitiere hier eine Forderung, die gegenwärtig von Ciudad Juárez aus an den mexikanischen Staat gestellt wird und die ich in dieser schönen Stadt Berlin im Land von Clara Zetkin vorstellen möchte:

„Wir, die Familienangehörigen von Frauen, die Opfer von Frauenmorden wurden oder die verschwunden sind, die wir uns in der Gruppe der vereinigten Mütter und in den Organisationen des Netzwerkes Mesa de Mujeres der Stadt Juárez organisiert haben, wir fordern, dass der Präsident der Republik, Herr Enrique Peña Nieto, die technischen, personellen und finanziellen Ressourcen einsetzt, um in Erfüllung der internationalen Empfehlungen den Schutz und die Achtung der Menschenrechte der Frauen in Juárez zu garantieren.“

Konkret bedeutet das, dauerhaft Ressourcen für die Vorbeugung, Verfolgung, Untersuchung, Bestrafung und Beseitigung der Gewalt gegen Frauen in Ciudad Juárez bereitzustellen. Die in Ciudad Juárez ansässigen Büros der Bundesregierung, wie die Nationale Kommission zur Prävention und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen (CONAVIM) und die auf Gewaltverbrechen gegen Frauen und Menschenhandel spezialisierte Staatsanwaltschaft (FEVIMTRA) müssen gestärkt werden. Diesen Bundesbehörden fehlt es an allem: an Personal, an Geld, an operativen Kapazitäten. Anstatt sie zu stärken, werden ihre materiellen und personellen Ressourcen immer mehr ausgedünnt. FEVIMTRA hat in der Stadt für die Verfolgung von Gewalt- und Menschenhandelsfällen nur zwei Anwaltschaften, also keine wirkliche Möglichkeit, Ergebnisse zu erzielen. Auch CONAVIM verfügt über zu wenig Personal: Dort arbeiten lediglich drei Mitarbeiter/innen und eine Verwaltungskraft; ausgebildetes und engagiertes Personal, das effektiver eingesetzt werden sollte.

Ich möchte die Aufmerksamkeit auf das Schreiben richten, das die Bürgerbeobachtungsstelle der Frauenmorde (Observatorio Ciudadano del Feminicidio) Präsident Enrique Peña Nieto übergeben hat. Darin bitten wir ihn um die Einrichtung eines effektiven Arbeitskreises, um das vor kurzem angenommene Bundesstrafgesetzbuch zu analysieren, das, nach den Worten meiner Kameradinnen, die Rechte der Frauen verletzt.

Die Arbeit des Nationalen Netzwerks der Verteidigerinnen in Mexiko und der Mittelamerikanischen Initiative der Menschenrechtsverteidigerinnen ist ernst zu nehmen. Sie zeigt Wirkung.

Meine Gedanken sind bei den Überlebenden der Gewalt, die sich Tag für Tag mit ihrer Situation auseinandersetzen müssen.

Ich danke meinen Kameradinnen vom Netzwerk Mesa de Mujeres in Juárez sowie den Freunden und Freundinnen des Netzwerkes für ihre Arbeit. Ich bin stolz darauf, Teil der staatlichen Frauenbewegung in Chihuahua zu sein und unsere Forderungen, Anklagen und Vorschläge vorbringen zu dürfen, wie dies vor Jahren Anne Klein in Deutschland getan hat.

Ich danke meinen Lehrerinnen für ihren Beitrag. Viele von ihnen weilen nicht mehr unter uns. Andere sind jeden Tag zusammen, geben sich gegenseitig Impulse und Anerkennung. Mein Dank gilt den Verteidigerinnen von Juárez dafür, dass wir den Weg gemeinsam gehen, dass wir den Widrigkeiten zu trotzen vermögen. Eure Freundschaft und Gesellschaft ehrt mich.

Mein Herz schlägt für meine Lieben, die mich jedes Mal, wenn ich bei ihnen bin, mit einer Umarmung empfangen.

Meine Gedanken gelten der Stadt mit den schönsten Sonnenuntergängen des Monats Oktober und der herrlichsten Wüstenlandschaft, die man sich vorstellen kann. Jedoch in der vergangenen Zeit der Trostlosigkeit und Traurigkeit hätten wir dort nicht bleiben können, gäbe es nicht diese Entschlossenheit und das Recht zu entscheiden, in der von uns gewählten Stadt zu leben, die uns so viel Schmerzen bereitet hat und die wir doch so sehr lieben: in Ciudad Juárez.