Die Macht der Poesie

Essay

Wie funktioniert mein Schreiben? Mely Kiyak stellt sich dieser großen Frage vor dem Hintergrund der Nobelpreis Vorlesung von Heinrich Böll, der sich darin mit der unergründlichen Voraussetzung für das eigene Schreiben beschäftigte.

Illustration: Böll nachdenklich

Was für ein Trost, dass auch Heinrich Böll, der große, der einzigartige, sich diese absolute Blödsinnsfrage stellte, diese eine Frage, die sich jeder Schriftsteller stellt: Wie funktioniert mein Schreiben? Vielleicht ist diese Form der Vermessung – auch Poetik genannt – der hilflose Versuch, eine Art Formel herausfiltern zu können, um sie bei künftigen Schreibaufträgen anwenden und das Produkt zügig abliefern zu können. Und obwohl man weiß, dass sich das Schreiben fortlaufend verändert, weil sich die Ansprüche an die eigene Arbeit bewegen, steigt man doch immer wieder wie ein Grubenarbeiter in die Tiefen des Schaffensprozesses hinab und kommt doch mit leeren Händen aus dem dunklen Schacht wieder hoch. Wenn man es wüsste, hätte man die Kontrolle über die eigene Arbeit. Die Wahrheit ist aber: Man taumelt als Autor vom Wahnsinn zur Krise, zu Überdruss und wieder zurück – und irgendwo auf dieser Strecke geschieht es dann: Etwas entsteht.

„Schreiben ist wie ein Fingerabdruck“

Heinrich Böll hat vor 50 Jahren in seiner Nobelpreis Vorlesung genau darüber gesprochen: über die unergründlichen Voraussetzungen des eigenen Schreibens. Er beginnt seine Expedition in seine Methode, indem er sich ins Verhältnis zum Brötchenbäcker und Brückenbauer stellt, stolpert in seinen Erklärungsversuchen von den chemischen und technischen Unwägbarkeiten, mit denen es ein Ingenieur genau wie er auch zu tun habe, zu den Elementen, dann weiter zu Mann, Frau und Tier, Liebe und landet bei Gott. Mit anderen Worten, er weiß es selber auch nicht. Ein „Parallelprotokoll“ des Schreibens könne vielleicht erklären, wie Literatur zustande komme, aber wer hat schon die Nerven, neben dem Text, die Chronik des eigenen Schaffens mitzustenografieren?

Böll war ehrlich und gestand, dass er die banalen Tätigkeiten benötigte, um sich zu füllen. Sportreportagen im Fernsehen für den „Kick“ oder „Sprung“ ins Bewusstsein. Es sind oft die trivialen Tätigkeiten, die einem helfen, das Denken zu sortieren und den Zipfel eines flüchtigen Gedankens zu erwischen. Von sich selber weiß man sowas ja, aber von einem Nobelpreisträger meint man, dass dieser aus anderem Holz ist. Jedenfalls sollte jeder, der mit seinem Beruf als Autorin hadert, die erste Hälfte von Bölls Nobelvorlesung kennen. Denn sie zeigt, dass Böll auch nur ein Mensch war, der keinen Plan hatte, so wie man selbst auch oft keinen Plan hat. Er jedenfalls soll eine große Rede halten und hat sich die Aufgabe gestellt, seinen Beruf zu beschreiben – und was macht er? Er misst seinen Schreibtisch aus („76,5 cm hoch, 69,7 mal 111 cm groß“) und teilt die Maße mit, als würde jemand auf die Idee kommen zu sagen, wer Nobelpreisträger für Literatur werden will, sollte zunächst seine Arbeitsplatte auf diese Maße stutzen (oder verlängern).

Jedes Schreiben – das sage ich, nicht er – ist wie ein Fingerabdruck, sehr viel Zufall spielt eine Rolle, sehr viel Individualität, Prägungen, Einflüsse. Na klar gibt es immer wieder Autoren, die in Interviews genau beschreiben, um wieviel Uhr sie zu arbeiten beginnen und welche Art Anzug sie tragen. Das sind touristische Führungen durch den Beruf, die den Zuhörer einerseits unterhalten sollen, aber eigentlich sind sie immer auch der Versuch, sich selbst zu mystifizieren. Man könnte das auch Imagepflege und Marketing nennen. Denn ich kenne Schriftsteller, die gerne erzählen, dass sie mit dem Anzug um Punkt 8 am Sekretär stehen würden, aber alle wissen, dass spätestens um 12 das große Besäufnis beginnt, im Anzug zwar, aber auf andere Weise die Contenance verlierend. Ein bisschen Folklore tut jeder Jobbeschreibung gut. Aber Böll tat das nicht, und das passt auch schon wieder sehr gut zu ihm, dass er da bescheiden bleibt.

Doch dann wechselt er das Thema und spricht über das, wovon jeder Schriftsteller die größte Kenntnis und Expertise besitzt: über Sprache.

Denn Schreiben ist nur der Akt – aber Sprache ist das, was einen vom bloßen Aufschreiber zum Literaten adelt. Böll erinnert daran, dass alles, was wir über Staaten und gesellschaftliche Konstrukte wissen, Sprache ist. Vielleicht ist das der Grund, weshalb es eben doch eine gute Idee ist, dass Schriftsteller politisch denken und sich in den Diskurs einbringen. Denn nur sie verstehen auf Anhieb, dass alles Behauptung ist, genau wie in der Literatur.

Beispiel Geld. Der Schein oder der Scheck an sich sind nichts wert. Es ist einfach nur ein Blatt Papier. Nur weil einem irgendwer erzählt, dass es etwas wert sei, bekommt es seine Bedeutung. Genauso die Ehe. Wenn Mann und Frau eine Ehe führen (zu Bölls Zeiten gab es die gleichgeschlechtliche Ehe noch nicht), dann ist Hochzeit oder Heirat nur ein Wort. Es ist eine Symbolik, denn natürlich gibt es keine Ehe. Das Zusammenleben erhält nur deshalb diesen Begriff, weil jemand behauptet, dass durch eine bestimmte Zeremonie nun eine Ehe geschlossen wurde. Es ist bloß eine Behauptung, ein Ritual allenfalls, das dem Wort Ehe – Mann und Frau leben zusammen und tragen einen Ring am Finger – eine Bedeutung beimisst. Eheleute unterscheiden sich von jenen, die ohne Trauschein leben, durch nichts. Sie erleben die gleichen Dinge (essen, Sex haben, zusammen in den Urlaub fahren). Das Zusammenleben wird mit einer Erzählung überwölbt.

Komplizierte Prozesse

Was unterscheidet Nordirland von Irland? Es ist die Erzählung der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, die sich in Erzählungen über ihre Identität voneinander zu unterscheiden meinen. Was aber ist eine Religion? Doch auch nur eine Erzählung über Leute, die schon lange nicht mehr leben. Das kann man beliebig durchdeklinieren. Über Staaten oder politische Akte – es ist immer alles Sprache. Erfindung könnte man auch sagen. Sprache und Vorstellungskraft gehören immer zusammen. Wir erfinden uns die Welt, indem wir sie mit Wörtern etikettieren. Und das ist schon das ganze Geheimnis. Wenn wir Böll für einen Moment verlassen und in die Gegenwart gehen, nach Russland, China, in die Türkei oder nach Ungarn, dann sehen wir das beste Beispiel dafür, was Sprache und Erfindung anrichten kann. Denn die Erfindung unterscheidet sich durch die Lüge ja auch nur darin, dass das eine folgenlos bleibt und das andere tötet. Alle Krieger, Imperatoren, Faschisten, Autokraten erfinden sich die Welt so, dass sie damit ihre zerstörerischen Absichten legitimieren können. Russland behauptet, dass Kiew die Mutter Russlands sei. Aber wie können Mutter und Kind zwei unterschiedliche Sprachen sprechen, eine unterschiedliche Kultur haben? Man sieht, mit Logik kommt man hier nicht voran, man muss der Lüge glauben, sonst stimmt die Wirklichkeit nicht.

Das sind komplizierte Prozesse, darüber müsste man hier länger und besser nachdenken, Böll tat das auch, die meisten Schriftsteller tun das, wir versuchen mit unserem Handwerk und unseren Kenntnissen unseren Gesellschaften zu erklären, was mit dem bloßen Werkzeug Sprache geschieht. Böll fragt: „Warum wohl hat die katholische Kirche lange den direkten Zugang zu den Wörtlichkeiten der für heilig erklärten Texte versperrt oder ihn in Latein und Griechisch versteckt gehalten?“ Seine Antwort: Weil die Kirche die Poesie des verkörperten Wortes witterte und um die Vernunft ihrer Macht vor der gefährlichen Vernunft der Poesie zu schützen.

Das ist es doch! Die Macht der Poesie. Das zu entkleiden, die mörderische Absicht aus der Sprache der Mächtigen zu schälen, wird auch heute noch als Aktivismus degradiert, als sei Aktivismus etwas Schäbiges und wir Schriftsteller nur dann Künstler, wenn wir schöne Worte aneinanderreihen. Zu Bölls Zeiten war es der Vorwurf, man gehöre dem Lager der engagierten Literatur an.

Die Kernkompetenz eines jeden Autors

Die Unterscheidung in engagierte und nicht engagierte Literatur ist sehr dumm. Welchen Sinn hat unengagierte Literatur? Jede Literatur ist engagiert, denn sie beginnt immer mit einem Anliegen. Dem Inhalt, dem Plot, der Story. Ihrem Kern. Das kann das Besingen eines Grashalmes sein oder das Beschreiben des Krieges, wofür Serhij Zhadan den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekam. Aber das Besingen des Grashalmes strahlt immer nur im Kontrast zum Krieg, das macht das Schöne zum Schönen. Nur wenn nebenan das Hässliche wütet, können wir das Schöne erkennen. Ein Schriftsteller weiß das, denn er arbeitet mit dem Mittel des Kontrasts.

Böll warnte vor einer klassenlosen Literatur. Ich übersetze es so: Das (bloße) Besingen eines Grashalmes muss man sich leisten können. Aber große Teile unserer Kolleginnen und Kollegen auf der Welt können sich den Luxus dieses Gesangs über die Schönheit immer weniger leisten. Im Kerker, im Bunker, in der Enge von Flucht, Exil oder Armut sieht man den Grashalm nicht. Man schreibt, was man sieht, was man erkennt – das ist die Kernkompetenz eines jeden Autors, einer jeden Autorin. Wir schälen den Sinn aus den Wörtern der Machthaber und demaskieren ihre Reden, indem wir sie in einfache Übersetzungen für das Volk verwandeln. Wir zeigen ihnen, was Wörter anrichten können und sollen. Ist das engagiert? Na und ob! Auch das ist unser Beruf. Darüber können wir alle viel erzählen.

Aber über das Schreiben fragt uns bitte nichts.

Das schafft niemand zu erklären, nicht einmal der sagenhafte und einzige Heinrich Böll.


Mely Kiyak ist Schriftstellerin und Kolumnistin, zuletzt erschien bei C. Hanser München „Werden sie uns mit FlixBus deportieren?“ (2022). Sie wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem dem Kurt-Tucholsky-Preis (2021) für literarische Publizistik und dem Theodor-Wolff-Preis.